■ Normalzeit: 1.-Mai-Diskussionen im Kreuzberger „Bierhimmel“
Von Helmut Höge
Der sechste Love-Parade-Erfolg in Folge im Verein mit der Verwandlung selbst großer Gewerkschaftsdemos in polizeiliche „Wanderkessel“ hat aus den Leistungsschauen der Linken am 1. Mai eine touristisch akzeptierte Hate-Parade gemacht. Ich fand mich nachts in der Kneipe „Bierhimmel“ in der Kreuzberger Oranienstraße in ein Gespräch über „Treue“ verstrickt wieder. Von Haß keine Spur. Es ging um Wolfgang Englers Buch über „Die Ostdeutschen“.
Während in der FAZ der Gedanke von der „arbeiterlichen Gesellschaft DDR“ darin hervorgehoben wurde, lobte Christoph Dieckmann in der Zeit Englers Stasi-Auslassungen mit „Ja und Amen“. Die Stasi war laut Engler die Krankheit zum moralischen Tod der DDR: „Wenn ich fürchten muß, daß mich der Vertraute hintergeht, daß der oder die mich verraten, an denen ich buchstäblich hänge, verliert alles Tun und Denken seinen Sinn. Mir fehlte der Mut zum nächsten Satz oder zur nächsten Handlung. Und dies eben: daß es weitergeht, daß sich Handlung an Handlung, Satz an Satz reiht, ist die unerläßliche Bedingung menschlicher Gesellschaft“.
„Stimmt, das sieht man sogar da draußen“, sagte eine Kunstkritikerin, und wies auf einige vor den Bullen weglaufende Demonstranten: „Je mehr Touris mitmachen, desto leichteres Spiel haben die Bullen. Die brauchen bloß mit dem Fuß aufzustampfen und schon spritzen die Kids auseinander. Früher hielt man solidarisch-kämpferisch zusammen und schaffte es dadurch sogar, daß die Bullen auseinanderspritzten. Ich erinnere mich noch an Ines Lehmann, wie sie einmal mit anderen von einer Reiterstaffel umzingelt wurde und einfach sitzen blieb. Als die Bullen auf sie einschlugen, zog Ines Lehmann einmal kurz am Knüppel und der Bulle stürzte mit dem Kopf zuerst aufs Pflaster. Das hat die anderen Staatsschützer so erschreckt, daß sie sich und ihre Pferde in Sicherheit brachten.“
„Was hat das mit der Stasi als Sozialkrebs zu tun?“, fragte ein Kulturwissenschaftler. „Ich kenne den Engler“, meinte daraufhin ein Journalist, „der sitzt doch immer im Torpedokäfer – mit seiner schönen rothaarigen Lebenspartnerin ...“ „Na und?!“ „Aber das ist es doch gerade: ein Anachronismus – Lebenspartner, so wie Gesellschaft überhaupt. In der Viehzüchter-Gesellschaft hatten die Männer viele Frauen, in der ackerbäuerlichen eine: Unsere Ehre heißt Treue! Das erforderte die Ökonomie: lebenslänglichen Zusammenhalt. In der Industriegesellschaft zersetzt sich das, jetzt halten die Beziehungen hier nur noch sieben Jahre. Und es ist absehbar, daß die Lebensabschnittsbegleiter immer häufiger wechseln, so wie die Moden und Produktzyklen auch immer schneller aufeinander folgen. Diesen Wechsel – den nannte man früher Verrat. Heute ist man einfach nur noch bescheuert, wenn man zum Beispiel noch immer als Punk rumläuft. Auch wenn man in seiner Karriere nicht weiterkommt, verliert man schnell sein Umfeld – seine Freunde: Man wird einfach von ihnen abgehängt. Und umgekehrt stabilisiert und erweitert sich die ,Gesellschaft', der Bekanntenkreis um einen, wenn man besonders erfolgreich ist.“
„Dort schleicht sich aber dann wieder der Verrat ein“, unterbrach der Kulturwissenschaftler, „alle Erfolgreichen klagen, daß sie von Parasiten und Schleimern umgeben sind“. „Wollt ihr damit sagen, daß heute jeder fürchten muß, daß ihn der oder die Vertraute hintergeht?“, fragte ich. „Nein“, meinte der Journalist, „nur solche Anachronisten wie Engler. Wir anderen bemühen uns statt dessen, den Verrat nicht zu fürchten, im Gegenteil: Uns ängstigt die beschissene Treue, die sich immer wieder an Stelle der Leidenschaft einschleicht – und einen zum Ausharren zwingt, obwohl alles andere viel spannender wäre. Ich erinnere mich an einen Zeit-Artikel von Frau Dieckmann, darin drohte sie: Wenn er, Christoph – ihr Mann –, sie noch einmal vor einem Schallplattenladen stehen läßt, dann verläßt sie ihn. Eine moderne Taiwanesin! Dort wechselt man alle drei Jahre den Job.
Auch die Beziehung ist ein ,Projekt' – und wenn es trotz Kampf nicht mehr weitergeht, dann – auf ein neues“!
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