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NormalzeitPostproletarische Poesie

■ Von Helmut Höge

Die Dichterdichte ist heuer im Ostelbischen mal wieder enorm: Ich rede nicht von all den Live-Lesungen in ehemals kommunistisch regierten Schlössern und Burgen mit abschließendem Brillantfeuerwerk aus dem Westen. Auch nicht von Annett Gröschners riesigem Rheinsberg-Poem über die Kraftwerksarbeiter, die dort einst das AKW aufbauten, das sie nun wieder – auf ABM-Basis – abbauen.

Statt Gröschners Lesung, mit der sich ihr Rheinsberg-Stipendium rundete, besuchte ich das nahe Lyrik-Event der Pankower Literaturwerkstatt, u. a. trat dort Alina Wituchnowskaja auf. Die Moskauer Miliz hatte sie einmal ins Gefängnis gesperrt, weil sie nicht bei einer journalistischen Kokain-Recherche mit ihnen kooperieren wollte. Weltweit erhoben alle Dichter Protest. Inzwischen spielt die labile Dichterin – sie hat bereits 11 Selbstmordversuche hinter sich – in der Hardrockgruppe „Rote Sterne“ mit und steht den Neobolschewisten um Limonow nahe.

Dieser wiederum lebte lange in New York, wo er – nachdem ihn seine Frau verlassen hatte – das Buch „Fuck off America“ verfaßte. Sein Werk half mir einmal sehr, nachdem mich eine Frau in Hessen – nur wegen eines dusseligen mit Koks handelnden Amis – verlassen hatte.

Die 1974 geborene Dichterin Alina Wituchnowskaja nun bekam jüngst vom Hamburger Futtergroßhändler Töpfer ein „Puschkin-Stipendium“. Zu ihrer Lesung in Pankow erschien auch der Petersburger Dichter Arkadi Bartow, der gerade ein Stipendium des Literarischen Colloquiums Berlin hat. Seine postmodernen Texte ließ er im Prenzlauer Berg von einem klassisch ausgebildeten Schauspieler lesen, wodurch sie jedoch nicht mehr „funktionierten“. Zuvor hatte sie bereits Wladimir Kaminer – nolens volens nonchalant – im „Siemeck“ vorgetragen: Dabei waren sie sehr gut angekommen.

Kaminer und sein Dichterfreund Ilja Kitub nahmen an diesem Wochenende an einer großen russischen Dichter-Session in Weimar teil, die u. a. die Prenzlauer-Berg-Dichter Willmann und Papenfuß mit Weimarer Kulturgeldern organisiert hatten. Da einige der Eingeladenen, u. a. Andrej Welikanow, anschließend noch in Berlin Mucken machen wollten, fuhr ich statt nach Weimar ins Haus der russischen Kultur in Mitte, wo gerade die Ausstellung „Marke Eigenbau“ eröffnet wurde: Jedes der etwa 200 Exponate war ein Gedicht! Einige rührten mich fast zu Tränen. Zwar bin ich auch leidenschaftlicher Stabreimer, aber noch lieber bastel ich an irgendwelchen Geräten herum. Und hier hatte die Chemnitzer ABM-Beschäftigungsgesellschaft „Phönix“ die schönsten „Erfindungen“ aus ganz Sachsen konzentriert. Es gab Küchengeräte aus Bohrmaschinen und Bohrmaschinen aus Küchengeräten, zu Betonmischmaschinen umgewandelte Bierfässer und zu Motorradbeiwagen umgeschmiedete Peitschenlampen. Der Konstanzer Kollege Ebner hat darüber auf den taz-Kulturseiten bereits das Wesentliche gesagt. Dazu hat er überflüssigerweise auch noch den Erfindungsüberschwang der Sachsen auf die Mangelwirtschaft im Sozialismus zurückgeführt –und das als Quasi-Schwabe, der es doch eigentlich besser wissen müßte: Die zumeist aus den Bereichen Garten, Datsche, Urlaub und Hobby zusammengetragenen Erfindungen verdanken sich der Arbeitszeitreduzierung, sind also fast alles Geräte zur Freizeitgestaltung bzw. -erleichterung.

Im Westen gingen daraus die Tourismus-Industrie sowie die Ökologiebewegung hervor: Wenn man ins Grüne zieht, muß die Natur möglichst unverbraucht aussehen. Bei einer gesunden 7-Tage-Woche kommt es eher darauf an, daß der Schornstein raucht – und der Nachschub nicht ins Stocken gerät. In den Basteleien ist dagegen die kommunistische Utopie einer Aufhebung der debilisierenden Trennung von Kopf- und Handarbeit „verwirklicht“, und zwar aufs Liebevollste: Jede noch so kleine Schraube hat ihre eigene Geschichte, zu schweigen von den ganzen Muttern.

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