Nora Lafi über den Aufbruch in Nordafrika: "Eine Revolution der Jugend"
Die Veränderungen in der tunesischen Zivilgesellschaft könnten ein Modell für die arabische Welt sein, sagt die Historikerin Nora Lafi. Jetzt fängt die Revolution erst an.
taz: Frau Lafi, die tunesische Revolution hat einen Vorsprung vor der ägyptischen. Wie gestalten sich nun die Mühen der Ebene ?
Dr. Nora Lafi: Jetzt fängt die Revolution erst an: nämlich der Prozess zur Veränderung der Gesellschaft. Und diese Revolution ist langwierig. Aber die Tunesier sind wachsam und das Land versinkt nirgends im Chaos. Es läuft alles wieder erstaunlich normal.
Was sind die größeren Schwierigkeiten?
NORA LAFI, französische Historikerin mit algerischen Wurzeln, ist 1965 in Istres bei Marseilles geboren. Sie forscht am Berliner Zentrum Moderner Orient. Ihr Spezialgebiet ist die Geschichte maghrebinischer Städte.
Die Partei des abgesetzten Präsidenten Ben Ali, die RCD, ist sehr stark im Land verankert, gut organisiert. Und es sitzen noch viele Politiker der RCD in der Regierung.
Diese ist aber nur als Übergang gedacht?
Schon. Aber wie soll die Regierung auf allen Ebenen von der Korruption gereinigt werden, wenn die alten Protagonisten dort und auch in der Verwaltung sitzen. Es gab natürlich auch aufrechte Technokraten in der tunesischen Verwaltung. Das Problem bleibt aber, dass Ben Ali und seine Umgebung alles infiltriert haben. Die Absetzung Ben Alis war zunächst eine Entscheidung innerhalb seiner Partei, die trotz des Drucks der Straße so ihre Pfründen verteidigen wollte. Aber das haben die Leute auf der Straße sehr gut begriffen: sie fordern zu Recht weiter die Absetzung der alten RCD-Kader.
Es reicht also nicht aus, dass Oppositionelle aus dem Exil und aus Tunesien nun mitmischen und Neuwahlen vorbereiten?
Es ist gut, dass viele Intellektuelle zurückgekommen sind, es ist auch gut, dass die alten Parteien und die Islamische Partei mitarbeiten. Aber die tunesische Gesellschaft will einen Neuanfang. Und das noch existierende politische System ist das alte, und dieses muss ganz weg. Die alten Strukturen müssen aufgelöst und aufgearbeitet werden.
Nun wurde eine Kommission zur Untersuchung der Polizeigewalt eingesetzt. Tunesien hat die UN-Antifolterkonvention, das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes und Menschenrechtsabkommen gebilligt. Man hat hohe Polizeidirektoren in den Ruhestand geschickt. Bröckelt die Macht der alten Nutznießer und Schergen Ben Alis ?
Das sind alles wichtige Schritte, aber es kommt jetzt darauf an, dass die Zivilgesellschaft die Macht übernimmt und die korrupten Strukturen zerstört. Dass dieses Beziehungsgeflecht, diese Bakschisch-Mentalität, die sich überall eingeschlichen hat, durchbrochen wird. Diese Clanwirtschaft hat die Dynamik aus der Gesellschaft genommen und sie blockiert.
Welche Zivilgesellschaft meinen Sie eigentlich?
Bevor das Land unter seinem Staatsgründer und ersten Präsidenten Habib Bourguiba zentralisiert wurde - und das ist mein Thema als Historikerin -, gab es immer dezentrale soziale und politische Organisationsstrukturen auf der Ebene von Stadtvierteln, Bezirken und Regionen. Es sind Leute, die ihre Stadtviertel verteidigen, die Leute in Verbänden wie Ärzte, Anwälte, Journalisten, Studenten, die Gewerkschaften. Vor allem junge Leute, die nicht aus verknöcherten Parteistrukturen kommen.
Wie Slim Amamou, der Blogger, der als Staatssekretär für Jugend und Sport in der Übergangsregierung sitzt?
Ja, das ist wunderbar. Denn das war keine Revolution alter Oppositionsparteien, sondern eine Revolution der Jugend.
Nun wurden 24 Gouverneure der Regionen ersetzt. Geht das in die richtige Richtung?
Das ist eine sehr wichtige Entscheidung, denn die Regionen hatten keinen Einfluss. Sie wurden je nach den politischen Interessen in Tunis vernachlässigt oder gefördert. Das war schon unter Bourguiba so.
Wie soll die politische Formierung der bislang unterdrückten Zivilgesellschaft funktionieren?
Indem sie bewusst aufgebaut wird, indem Europa, das blind gegenüber den Despoten war, nun solche Strukturen gezielt unterstützt. Man muss die bestehende demokratische, laizistische Zivilgesellschaft fördern, das gilt vor allem für das Netzwerk der Jugend. Deren demokratisches Bewusstsein hat die Welt erstaunt. Die Tunesier hätten es verdient, denn sie haben dafür gekämpft. Und sie haben die breiteste Mittelschicht in der arabischen Welt, gute Bildung, Intellektuelle. Sie haben eine starke laizistische Strömung. Das sind alles günstige Voraussetzungen.
Die man so beispielsweise in Ägypten nicht findet?
Tunesien und Ägypten haben verschiedene Geschichten. Im kleinen Tunesien ist es leichter, nach vorn zu preschen. Tunesien war unter französischer Herrschaft und es hat universelle Prinzipien wie Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit und republikanisches Bewusstsein stärker verinnerlicht als das großenteils agrarisch geprägte Ägypten.
Sie meinen, das unbedeutende Tunesien darf mehr Demokratie wagen?
Ägypten hat ein geostrategisches Problem mit seinen Grenzen zu Israel und Gaza. Das Militär ist dort größer, aggressiver, aktiver. Und die Zivilgesellschaft ist weniger entwickelt, es gibt weniger repräsentative Institutionen, weniger Bildung, mehr Armut.
Tunesien könnte nun von seiner republikanischen Tradition und deren Institutionen profitieren?
Tunesien hat Gewerkschaften, Verbände, Interessengruppen - ein Aufbruch der tunesischen Zivilgesellschaft könnte Modell für die arabische Welt sein, wo es ja nirgends starke Oppositionsparteien gibt.
Es gibt nur eine Frau in der Übergangsregierung: Lilia Labidi, Ministerin für Angelegenheiten der Frauen. Ist das nicht etwas wenig für ein Land, das immer von der Gleichstellung der Geschlechter redet?
Das zeigt, dass noch nichts gewonnen ist. Und die Zivilgesellschaft muss sich darin beweisen, dass sie die, die ganz unten stehen, mitnimmt. Und ganz unten steht ohne Zweifel die Frage der Geschlechter. Aber das Zeitfenster ist offen. Es ist ein guter Zeitpunkt, in Tunesien all dies neu zu diskutieren, neu zu mischen.
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