: Noch immer BND-Agenten in Ost-Berlin?
■ Kurz vor der endgültigen Einheit geistern Agentengeschichten zwischen BRD und DDR hin und her / Doppelagent Tiedge verschwunden / Diestel warnt vor „Enthüllungen“
Berlin (taz/adn/ap) - Es war wie in alten Zeiten: Die beiden deutschen Teilstaaten beschuldigten sich am Wochenende aufs heftigste gegenseitig der Spionage. In einem gestern vorab veröffentlichten Interview der 'Bunten‘ ereiferte sich DDR-Innenminister Peter Michael Diestel, er wisse, „daß noch immer Agenten des Bundesnachrichtendienstes in Ost-Berliner Ministerien unentdeckt sitzen“. Völlig überflüssig, meint Diestel; der westdeutsche Geheimdienst „kann mich doch direkt fragen“. Allerdings räumte er ein, daß es noch „etliche“ DDR-Spione in Bonn gebe.
Im gleichen Interview bestätigte der Innenminister, was in der BRD bislang stets abgestritten wurde: Westliche Geheimdienste würden massiv versuchen, Stasi-Experten für viel Geld anzuwerben. „Es handelt sich nicht nur um Einzelfälle, sondern um eine ungeahnt große Zahl von Fällen.“
'Bild am Sonntag‘ schlug zurück. Nach Erkenntnissen dieser Zeitung hat der Militärische Nachrichtendienst der DDR -Volksarmee noch neun Wochen nach Amtsantritt von Verteidigungsminister Rainer Eppelmann in der BRD spioniert. Erst am 23.Mai habe es den letzten Funkspruch des Geheimdienstes gegeben, in dem zur Einstellung jeglicher Spionagetätigkeit aufgerufen worden sei. Bis Mitte Mai, so die Karlsruher Bundesanwaltschaft, soll auch der am vergangenen Donnerstag verhaftete CDU -Bürgerschaftsabgeordnete aus Hamburg, Gerd Löffler (51), vom Militärischen DDR-Geheimdienst Spionageaufträge erhalten und „ordnungsgemäß“ ausgeführt haben. Der stellvertretende Leiter des Hamburger VS, Ernst Uhrlau, glaubt, daß vor allem dessen Zugehörigkeit zum „G-10„-Ausschuß von besonderem Interesse für den DDR-Geheimdienst gewesen sein dürfte. Dieser Ausschuß kontrolliert staatliche Postüberwachungs und Telefonabhöraktionen.
In Bonn herrscht offiziell Empörung über solche DDR -Spionageaktivitäten. Die CSU forderte noch am Wochenende die sofortige Entlassung Eppelmanns, CSU-Generalsekretär Huber setzte sich für einen Untersuchungsausschuß ein. Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Hertha Däubler-Gmelin verlangt die Sicherstellung der entsprechenden Akten in Ost -Berlin und meinte, ganz offensichtlich bestünden alte SED -Stasi-Seilschaften unverdrosen weiter.
Den vielfach erhobenen Vorwurf, im DDR-Innenministerium existierten nach wie vor solche SED-Seilschaften, die sich gegenseitig Posten zuschieben, will Diestel nicht auf sich sitzen lassen. Hätte er bei Polizei und Grenztruppen alle Dienstränge ab Hauptmann abgesetzt, so Diestel in der 'Jungen Welt‘, wären „uns Mord und Totschlag nicht erspart geblieben, das garantiere ich“. Es gebe in Deutschland Kreise, die Interesse daran haben, die alte Elite auszugrenzen, empörte er sich. In diesem Zusammenhang klingt es dann auch fast wie eine Drohung, wenn er in der 'Welt am Sonntag‘ für den bevorstehenden Wahlkampf neue „Enthüllungen“ aufgrund von Stasi-Akten ankündigt: „Ich weiß, daß viele ehemalige Offiziere ihr Wissen vermarkten wollen.“ Die SED habe durch den Stasi fast alle führenden Politiker der BRD belauschen lassen. Es existierten Akten über Telefonate bis hinein in die Privatsphäre.
Unterdessen ist in der DDR ein Mann verschwunden, an dem westdeutsche Behörden großes Interesse gehabt haben dürften: der langjährige Doppelagent für den Kölner VS und den Ost -Berliner Staatssicherheitsdienst, Hansjoachim Tiedge (53). Am 21.August und damit fast auf den Tag genau fünf Jahre nach seinem Absprung in die DDR ward er ein letztes Mal gesehen. Angeblich wurde ein mit seinen Habseligkeiten beladener Speditionstransporter beobachtet, wie er in eine Kaserne der Roten Armee im Ost-Berliner Bezirk Treptow einbog.
bg
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