: Noch hat Amerika diverse Gesichter
Die wendländische Filmemacherin Josephine Links porträtiert in ihrer Dokumentation „We all bleed red“ den amerikanischen Starfotografen Martin Schoeller

Von Wilfried Hippen
In den Straßen von Los Angeles finden Filmaufnahmen mit Obdachlosen statt. Sie erzählen in die Kamera von ihrem Leben, von Drogensucht, Missbrauch im Elternhaus und davon, wie man in der Stadt der Engel schnell aus dem amerikanischen Traum aufwacht. Dann erst fällt auf, dass die Filmkamera hinter einem Fotografen steht und ihn dabei filmt, wie er diese Menschen fotografiert. Und danach folgt eine Montage seiner perfekt in Szene gesetzten Porträtbilder. Die wirken so ästhetisch und intensiv, dass es einen Moment dauert, bis man erkennt, dass man eins von ihnen kennt: das von Barack Obama.
Ihn hat der Fotograf Martin Schoeller mit der gleichen Sorgfalt und im gleichen Stil in Szene gesetzt wie die Wohnungslosen. So wird der Titel des Films gleich nach den ersten Minuten auf den Punkt gemacht: Wir alle haben das gleiche Blut und sind es wert, dass unsere Gesichter gezeigt werden. Martin Schoeller ist einer der bekanntesten Fotografen der USA. Mit seinen extremen Nahaufnahmen, den „Close-up-Stills“, hat er viele Fotobücher und Ausstellungen gefüllt. Er porträtiert die Berühmten und Reichen: Clint Eastwood und Angela Merkel, Meryl Streep und Taylor Swift, Donald Trump und Robert De Niro.
Doch neben diesen gut bezahlten und oft gezeigten Bildern macht er auch Fotostrecken mit den Armen und Außenseitern der US-amerikanischen Gesellschaft. Und so ist dieser Film nicht nur ein Künstlerporträt, sondern zeigt auch die USA aus der Sicht der Minderheiten. Schoeller hat in einer Armenküche in Los Angeles Suppe verteilt und kann ohne Herablassung mit den Menschen reden. Diese grundsätzliche Empathie ist in all seinen Bildern zu spüren.
In Hamburg läuft „We all bleed red“ im Abaton am 29. und 31. 8. sowie am 2. und 3. 9., im Studio-Kino vom 29. 8. bis 1. 9. täglich sowie am 3. 9.
In Hannover läuft „We all bleed red“ im Kino am Raschplatz am 31. 8. und 3. 9.
Martin Schoeller ist der Stiefbruder der im Wendland lebenden Filmemacherin und Autorin Josephine Links. Die hat 2011 mit „Wir sterben“ einen Film über den Tod ihrer Großmutter und zwei Jahre später mit „Am Anfang“ eine Dokumentation über Schwangerschaften gedreht. Hier nun folgt sie Schoeller mit ihrer Filmkamera so selbstlos, dass sie fast unsichtbar bleibt. Sie schaut ihrem Stiefbruder über die Schulter, zeigt ihn beim Fotografieren, Aufbauen seiner riesigen alten Plattenkamera und beim Hängen einer seiner Ausstellungen. Vor allem aber bei Gesprächen mit den Menschen, die er fotografiert. Nicht die Prominenten, sondern jene, die er auf den Straßen von Los Angeles und New York oder beim Verteilen von Suppe bei einem Food Sharing Project trifft.
Die Arbeit der Porträtierenden und des Porträtierens vermischen sich so nahtlos, dass man seine und ihre Bilder kaum auseinanderhalten kann – aber es bleibt ja in der Familie. Nicht einmal die Trennung zwischen Einzel- und Bewegtbild behält ihre Gültigkeit, denn Martin Schoeller macht auch sogenannte Moving Portraits, also kurze Videos, in denen seine Protagonist*innen sich vor der Kamera bewegen und im Off ihre Geschichten erzählen.
Mit dieser Technik arbeitet er, weil er eine Reihe mit Porträts von Menschen gemacht hat, die unschuldig zum Tode verurteilt wurden. Und auch bei seiner Serie mit Porträts von Überlebenden des Holocaust wendet er dieses Stilmittel an. Er selbst sagt im Film dazu, dass man ihnen ihr Schicksal nicht an den Gesichtern ablesen kann.
Zusammen mit Josephine Links begibt sich Schoeller auf einige Expeditionen in die USA der Machtlosen und Minderheiten. In Los Angeles treffen sie zusammen trans* Menschen, von denen viele obdachlos sind. In New York organisiert er eine Fotosession mit Dragqueens, die sich extrem aufwendig kostümieren, frisieren und schminken. Der bunteste Paradiesvogel ist dabei jene(r), der/die sich „Avant Garage“ nennt und im Stil des Malers Jackson Pollock mit bunter Farbe bekleckern lässt. Sie sind allesamt extrem exaltierte Selbstdarsteller*innen, aber Schoeller bringt sie dazu, für seine Bilder ohne Posen in die Kamera zu blicken. „Manche sind dann unzufrieden“, sagt er, aber die Qualität seiner Bilder gibt ihm recht.
Der Film verlässt nur einmal die Metropolen der Ost- und Westküste, wenn Schoeller und Links zu einem Stammestreffen, einem sogenannten Powwow, von nordamerikanischen Ureinwohnern reisen, die sich im Film übrigens selbst als Indians bezeichnen. Auch hier fangen die beiden Bilder und Geschichten von einem diversen, bunten, aber auch bedrohten Amerika ein. Und einer der Navajo sagt dann auch den Satz, der fast wie ein Zitat aus dem Monolog des Shylock in Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“ klingt: „We all bleed red.“
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