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No more Klinsmän

Deutsche Fans gewähren einen Blick in die verwundete Fußballseele – „totally empty“  ■ Von Andrea Böhm

New York (taz) – Da investiert man 200 Dollar in die Eintrittskarte, um direkt hinter dem Bundes-Berti sitzen und ihm ein paar Tips zurufen zu können – und dann hört der Mann einfach nicht zu. Wie kann man bloß kurz vor Spielende einen Brehme einwechseln, wenn die Mannschaft 1:2 zurückliegt? Oder einen Illgner ins Tor stellen, wo doch jeder weiß, daß „der blind ist“? In kleinen Grüppchen stehen sie nach dem Abpfiff um das wunderschöne „Giants“- Stadion in New Jersey herum, die schwarz-rot-goldenen Fahnen um die Schultern geschlungen, als wären sie in einen Platzregen geraten – und rätseln, wie das passieren konnte. Stefan und Michael, Studenten aus Düsseldorf und eingefleischte „Fortuna“-Fans, Thomas und Mathias, Jura-Referendare aus Hamburg mit ungebrochener Affinität zum FC St. Pauli.

Und ein paar tausend weitere Fans, die „einmal USA, hin und zurück, mindestens inklusive Halbfinale“ gebucht hatten. Während dieses Dialogs hat sich ein Fernsehteam der BBC herangepirscht und bittet um Stellungnahme zur unvermeidlichen Frage: „How do you feel after the germans lost?“ Michael starrt in die Kamera und platzt nach einer dramatischen Pause von mehreren Sekunden heraus: „Empty. Totally empty.“ Die britische Kollegin nickt, sichtlich beeindruckt von diesem Einblick in die deutsche Fußballseele. – Dabei hatte alles ganz verheißungsvoll angefangen. Das Stadion, mit 72.000 Zuschauern bei bestem Wetter fast ausverkauft, schien komplett mit deutschen Fans, wenn nicht Deutschen, besetzt zu sein. Auf schwarz-rot- gold grüßten die „Knobeltiere aus Bad Lippspringe“, die „Braunschweig-Family“ und „St. Blasien“. Selten fanden „Germany- T-Shirts und Nationaltrikots eine solch breite und multikulturelle Abnehmerschaft. Amerikanische Soccer-Liebhaber der Alexi-Lalas- Generation kommentierten jeden deutschen Angriff, jede Flanke mit einem anerkennenden „Wow, that was sick.“ Zu deutsch: Mann, war das krank. – Bulgariens Anhänger waren für das ungeübte Auge nicht zu erkennen. Ein berühmter deutscher Literaturkritiker soll einmal gesagt haben, Günter Grass habe in jungen Jahren ausgesehen wie „ein bulgarischer Spion“ – aber auch dieses Kriterium half bei der Identifikation bulgarischer Fans nicht weiter. Die gelang erst, als in der 76. Minute Bulgariens Star Hristo Stoitchkov, der überhaupt nicht aussieht wie Günter Grass, dafür aber besser schießen kann, den Ball nach einem Freistoß ins Tor der Deutschen zirkelte.

Da war das Stadion plötzlich in bulgarischer Hand. „Mann, war das krank“, jubelten die drei Amerikaner, während zwei salvadorianische Damen, die offenbar gegen den ehemännlichen Rat auf Bulgarien gesetzt hatten, ihren Gatten triumphierend in die Rippen boxten. Plötzlich flatterten bulgarische Fahnen, unterstützt von einigen brasilianischen, polnischen und gar türkischen Flaggen – und all die Amerikaner in ihren Germany- Trikots jubelten überschwenglich. Kurz vorher gab es noch ein lautes Pfeifkonzert, als der Schiedsrichter ein Tor von Völler nicht anerkannte. Das ist das Schöne an Fußball in den USA: Keine übertriebenen Loyalitäten. Hauptsache: Action. – In den Sitzreihen der, nach der Definition der Staatsbürgerschaft, „echten“ Deutschen wurde es drei Minuten später mucksmäuschenstill, als Yordan Letchkov per Kopfball die 2:1 Führung erzielte und das Transparent „Meppen grüßt den Weltmeister“ obsolet zu werden drohte.

Jürgen Klinsmann, bis dahin unbestrittener Darling der amerikanischen Journalisten, war der Star von gestern; und die Fernsehteams hasteten durch die Stadiongänge, um bulgarische Fans vor die Kamera zu bekommen. Die lieferten sich bereits erste Gesangsduelle mit Italoamerikanern aus dem benachbarten New York. Das Halbfinale morgen gegen Italien ist nach Ansicht von Planen Bratoev, der extra mit Familie aus Sofia eingeflogen war, nur Formsache. Hörbar verkündet er für die Umstehenden: „Das Finale heißt: Stoitchkov gegen Romario.“

So viel gute Laune findet man derzeit nur noch in Sofia, wo Bratoevs Landsleute gerade Purzelbäume schlagen. Es sei ihnen gegönnt, schließlich haben sie im wachsenden Chaos von Wirtschaft und Politik wenig zu lachen, weshalb die ersten nach der Wiedereinführung der Monarchie schreien. Vielleicht sind sie jetzt mit elf Halbfinalisten zufrieden. Dann hätte Vogts zwar wenig für den deutschen Fußball, aber viel für die bulgarische Politik getan.

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