: Nix für Verklemmte
■ Naturkundliche Aufklärungslesung
Tucholsky fand ihn einfach nur lächerlich und geißelte die „Verlogenheit seiner Embryonal- und Ei- Lyrik“. Gemeint ist Wilhelm Boelsche, der um die Jahrhundertwende einen dreibändigen Wälzer schrieb mit dem vielversprechenden Titel „Das Liebesleben in der Natur“ und der bis in die zwanziger Jahre ein Bestseller blieb. Der neugierige Leser fand darin ganz verwirrende Überschriften wie etwa „Von der Eintagsfliege zur Madonna“ oder „Die Liebe in der Mausefalle“.
Der Schauspieler und Kabarettist Helmut Krauss und der Percussionist Albrecht Riermeier haben aus dieser keineswegs lächerlichen, sondern sehr amüsanten Sittengeschichte der Natur und Evolution am Donnerstag abend im Naturkundemuseum die schönsten Derbheiten zu Gehör gebracht. Gemäß dem Veranstaltungskonzept von „Schauplatz Museum“ wurden Ausstellungsraum und Vortrag auf subtile und doch einfache Art und Weise zueinander in Beziehung gesetzt. Da es nämlich um nichts anderes als ums Vögeln ging, saßen wir folglich in der ornithologischen Abteilung, obwohl wir auf der Leiter der Tiergattungen nur bis zum Tintenfisch kamen.
So begann der Vortrag mit den Quallen und Polypen, deren schwabbelig-ungreifbares Liebesleben uns sogleich in einer „Gespenstergeschichte von Kaffeetassen“ anschaulich wurde. Aber damit nicht genug: wir folgten recht interessiert einem kleinen Exkurs über die Unsterblichkeit der Seele und dann, ganz unvermittelt, spinnt Herr Boelsche „über Goethe hinweg an etwas ganz anderes an: nämlich eben an den lieben Bandwurm“. Nach einer Reihe wollüstig-unappetitlicher Wurmknospungen und anderer gedanklicher Verwicklungen „die so endlos sind wie die Bandwürmer“, gelangt der Liebesroman des Wurms an den Ursprung alles Bandwurmbalzens: zum Kopfbandwurm.
Dieser einsame „Patriarch“, der alles hinter sich knospen und knospen läßt und den „der Tod vergessen zu haben scheint“, ihm bleibt „die hohe Liebe verschlossen, die Liebe auf du und du ...“. Der Populärwissenschaftler Boelsche wurde seinerzeit von einem Publikum goutiert, das auf die verklemmten Analperversitäten und Kastrationsgeschichten eines Wilhelm Busch eingeschworen war. So wie wir aber auf Wilhelm Busch nichts kommen lassen, würden wir gerne mehr von Boelsche hören, von der Austernfleischeslust oder vom Tintenfisch, der trotz abgerissenen Liebesglieds unbekümmert seiner Wege schwimmt. Vielleicht als Fortsetzung morgens im Radio? Matthias Schad
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen