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Nigeria zählt seine Millionen

Heute und morgen herrscht im bevölkerungsstärksten Staat Afrikas Ausgangssperre — das Volk wird gezählt/ Das Finanzgezerre zwischen den Bundesstaaten bietet viel Spielraum für Schummeleien  ■ Von Uwe Höring

120 Millionen plus minus — das wird das Ergebnis der Volkszählung sein, die dieser Tage in Nigeria durchgeführt wird. Das westafrikanische Land wird bald, gemessen an seiner Bevölkerung, weltweit an sechster Stelle stehen, hinter China und Indien, den USA, der Noch-Sowjetunion und Indonesien.

Leben in der Hauptstadt Lagos nun sechs Millionen Menschen oder acht oder neun? Und auch die genaue EinwohnerInnenzahl Nigerias kennt bislang niemand — zwei frühere Zählversuche, 1963 und 1973, scheiterten. Man behalf sich seither mit fragwürdigen Hochrechnungen, Schätzungen, über den Daumen gepeilt, allesamt unzuverlässig, untauglich.

Auch heute ist der Erfolg fraglich, zeigten die NigerianerInnen doch bislang ein gesundes Mißtrauen gegen staatliche Schnüffelei.

Da spielten zum einen soziokulturelle Faktoren eine Rolle. Muslim- Frauen im Norden waren für die Volkszähler nicht zu sprechen, andere Bevölkerungsgruppen betrachteten es als Tabu, sich zählen zu lassen. Wieder andere versteckten sich, weil sie befürchteten, auf den Spuren der Zähler würden die Steuereintreiber flugs folgen.

Aktiven Beitrag zur Fälschung leisteten Religionsführer, lokale Chefs und Politiker. Sie manipulierten, um die offiziellen Zahlen ihrer AnhängerInnen hochzutreiben. Diesen Stolperstein haben die Organisatoren diesmal vermieden: die Fragebögen enthalten keine Fragen nach ethnischer oder religiöser Gruppenzugehörigkeit — angesichts der Spannungen zwischen moslemischen und christlichen Gruppen eine sinnvolle Entscheidung.

Der Verdacht bleibt allerdings, daß die Kopfzählung Grundlage für zukünftige Verteilung der Staatsgelder sein könnte — Anreiz genug zum Schummelversuch. „Manche sind überzeugt, daß sie durch Fälschungen Vorteile haben werden, und werden es deshalb stets versuchen“, warnt der Ex-Gouverneur Alfred Diete-Spiff.

Christlicher Süden fühlt sich benachteiligt

Früher, in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit von 1960, wurden die Finanzmittel der Zentralregierung, die sich vor allem durch die Exporteinnahmen speisten, an die einzelnen Bundesländer nach ihrem Beitrag zu diesen Exporten verteilt. Und das waren vor allem die nördlichen Bundesländer, die Erdnüsse, Baumwolle und Vieh lieferten. Mit dem Ausbau der Erdölförderung im Südosten des Landes und dem Höhenflug der Erdölpreise in den 70er Jahren verdrängte das Öl die Landwirtschaft als wichtigsten Devisenbringer. Seither richtet sich die Verteilung nach der Bevölkerungszahl der Bundesländer — viele EinwohnerInnen, viel Geld aus Lagos.

Mit dem Absturz der Ölpreise in den 80er Jahren klang der Geldsegen ab, der in Nigeria eine hitzige Wirtschaftsentwicklung genährt hatte. Die Einnahmen sind geschrumpft, der Verteilungskampf ist härter geworden. Längst fühlt sich der Süden dabei benachteiligt. „In meinem Dorf wird Öl gefördert. Und was haben meine Leute davon? Sie wurden umgesiedelt, Entschädigungen aber haben sie auch nach zehn Jahren noch nicht bekommen“, klagt der Journalist Esinulo. Und die Armeeangehörigen, die im April vergangenen Jahres mit der Begründung, sie wollten „die Bevorzugung des Nordens durch die Regierung von Präsident Ibrahim Babangida beenden“, einen Putschversuch wagten, fanden im Süden viel Zustimmung.

Damit kommt auch die religiöse Konfrontation wieder ins Spiel, ist doch der Süden mehrheitlich christlich, der Norden — und Präsident Babangida selbst — moslemisch.

„Die Volkszählung ist keine Grundlage für die Verteilung der staatlichen Einnahmen“, beteuert hingegen der Sprecher der Nationalen Bevölkerungskommission, Umaru Galadanci. Über Rundfunk, Fernsehen und Plakate wird die Bevölkerung informiert über Ziele und Methoden. Eine Million Volkszähler und eine Ausgangssperre sollen gewährleisten, daß niemand durch die Maschen fällt, Kontrollen und Strafandrohungen Fälschungen verhindern. Denn die entscheidende Frage für den Erfolg, so der frühere Zensus-Beamte Alhaji Ahmadu Kurfi, ist „nicht so sehr die Genauigkeit, sondern die Frage, ob die Menschen die Zählung und ihre Ergebnisse akzeptieren“.

Andernfalls, so befürchten BeobachterInnen, könnte die Volkszählung und eine durch sie ausgelöste Verbitterung den Demokratisierungsprozeß gefährden, den die Militärregierung von Präsident Babangida eingeleitet hat und dessen nächster Schritt Mitte Dezember die Wahl von Länder-Gouverneuren und -Parlamenten sein wird. Weitere Unruhen, wie zuletzt Anfang Oktober die durch den deutschen Prediger Bonnke im nördlichen Kano provozierten Ausschreitungen, könnten „die Bereitschaft der Regierung schwächen, die Macht an gewählte zivile Kräfte abzugeben“, wie Mallam Baba Ali, einst Mitglied der Verfassunggebenden Versammlung, munkelt.

Manche glauben gar, Störungen kämen den Militärs gar nicht so ungelegen. Neue Konflikte könnten den Vorwand liefern, um die Rückkehr in die Kasernen zu verschieben. Die Zivilgesellschaft, so die mögliche Rechtfertigung, sei eben doch noch nicht reif für die Demokratie.

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