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Niemals wieder niemals sagen

Auch die künstlerischen Avantgarden unserer Hohen Moderne sind ohne den jahrhundertealten Sektenuntergrund überhaupt nicht zu verstehen. Erstmals liegen jetzt sämtliche wichtigen (und auch die bloß kuriosen) „Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde“ gesammelt vor. Wer gerade Voegelin gelesen hat, wird nicht umhinkönnen, bei folgendem Manifest an die Anabaptisten (Wiedertäufer) zu denken, die nackt durch die Straßen Amsterdams liefen, weil sie glaubten, jene unschuldige Einheit mit Gott wiedererreicht zu haben, die der „erste Adam“ genoß: „---- baargeld liegt märz 1920 morgens 10 Uhr bis nachmittags 3 uhr nackt im lichthof des kunstgewerbegewerbes zu cöln / o.g. evastöchter seht / das ist / adamismus der tat / ihr minscher, rums, das bargeld stinkt und schwitzt ... adamismus ist für beide geschlechter gleich wertvoll. gez. d'Adamax.“ Hinter dem großen d'Adamax verbarg sich übrigens Max Ernst, der erwähnte Nackte war der Mit-Dadaist Johannes Baargeld, dessen heutiger Wiedergänger Blixa sich nur mit einem A schreibt. Nicht alle Manifeste atmen freilich diesen Geist milden Unfugs. Es dominiert über weite Strecken ein eher angestrengter, hochgesteilter Ton. An was hat man sich nicht alles ankoppeln wollen in jenen Jahren, in denen ewige Wahrheiten von Tag zu Tag stürzen mochten, aber eines immer gewiß blieb: daß die Geschichte bloß darauf wartet, sich vor den Karren des Suridealismus spannen zu lassen. Und wenn nicht des Suridealismus, dann doch des Estridentismus. Und wenn dies nicht, dann eben Euphorismus, Suprematismus, Instantaneismus ... Viele von den Selbstzeugnissen, die hier von den Herausgebern in dankenswerter Vollständigkeit versammelt worden sind, lassen den Leser mit einer seltsamen Mischung aus Neid und Erleichterung zurück: Neid, weil wir uns von nichts mehr zu verabschieden haben als von diesem langen, hysterischen Abschiednehmen; weil wir keine Kleinbürger, keinen Kapitalismus, keinen „Kunstdreck“, keine Kirche, keinen „Menschen von gestern“, kein Europa – weil wir überhaupt nichts dergleichen mehr im Namen irgendeines Zenitismus, Taktilismus, Aismus, Haptismus, Odorismus, Presentismus und so weiter zu verabschieden haben. Das alles hat schon längst von uns Abschied genommen, ohne uns auch nur einmal nach unserer Meinung zu fragen. Einzig der Kapitalismus ist noch übrig, aber es flucht sich einfach nicht mehr so schön auf ihn, seitdem sich seine Alternativen aus dem Staub gemacht haben und man daher wohl noch eine Weile miteinander auskommen muß.

Nichts wirkt heute altmodischer als dieses manisch präpotente „Goodbye to all that“, das hier auf über 400 Seiten dokumentiert ist. Erleichtert, daß mit dem langen Abschied auch die unappetitliche Heranmache an geschichtsphilosophisch zugkräftige Instanzen wie „die Technik“, „das Proletariat“, die „totale Revolution“ erledigt ist, schlägt man das Buch zu und möchte am liebsten gleich ein kleines Manifest des Anti-Adieuismus aufsetzen: „Nieder mit: Schluß mit! Nie wieder ,nie wieder‘!“

Wolfgang Asholt, Werner Fähnders (Hg.): „Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938)“. J.B. Metzler Verlag, 481 Seiten, geb., 98DM

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