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Niederlande: Pflegebedürftige Pflegeversicherung

■ In den Niederlanden gibt es seit 40 Jahren eine Pflegeversicherung / Jährliche Mehrkosten von acht Prozent

Amsterdam (taz) – In den Niederlanden verfolgt man interessiert die bundesdeutsche Debatte um die Einführung einer Pflegeversicherung und deren Finanzierungsmodelle. Denn auch in Den Haag ist das Parlament seit geraumer Zeit mit einer Neustrukturierung des Gesundheitswesens beschäftigt.

Um die Einführung einer Pflegeversicherung geht es hier allerdings schon lange nicht mehr: Das „Gesetz für spezielle Krankheitskosten“ AWBZ deckt hier bereits seit den 50er Jahren ambulante Pflege sowie Aufenthalte in Pflegeheimen, Tagespflegezentren oder „Ersatzfamilien“ je nach Einkommen ganz oder teilweise ab.

Das AWBZ ist als staatliche Versicherung organisiert, die neben der Krankenversicherung, dem „Krankenfonds", existiert. Während Niederländer mit einem Jahreseinkommen von mehr als 50.000 Mark in der Regel nicht beim „Krankenfonds“, sondern privat krankenversichert sind, ist das AWBZ eine Pflichtversicherung, die unabhängig vom Einkommen ist. Der Beitragssatz von momentan 7,63 Prozent des Bruttoeinkommens wird von den ArbeitnehmerInnen selbst erbracht, während die Arbeitgeber einen großen Teil der „Krankenfonds“- Kosten von 6,35 Prozent des Lohnes übernehmen.

Glücklich ist man in den Niederlanden mit dem bestehenden Versicherungssystem dennoch nicht: Fast 14 Prozent des Einkommens für Kranken- und Pflegeversicherung aufzuwenden, erscheint vielen als zu hoch – zumal der „Krankenfonds“ längst nicht alle entstehenden Kosten übernimmt. So bezahlen Niederländer beispielsweise einen großen Teil ihrer Zahnarztkosten selber; viele Zahnärzte akzeptieren ohnehin nur private Patienten. Außerdem erstattet der Krankenfonds das Geld für Medikamente nur dann problemlos, wenn sie von einem auf der Versicherungskarte eingetragenen Hausarzt verschrieben und bei einer ebenso eingetragenen Hausapotheke abgeholt wurden. Wer es sich leisten kann, versichert sich privat, um dieser Bürokratie zu entgehen.

Zum anderen explodieren die Kosten: In diesem Jahr wird für den Krankenfonds ein Minus von 1,4 Milliarden Gulden (umgerechnet etwa 1,26 Milliarden Mark) erwartet; weitere 800 Millionen Defizit erwirtschaftet die AWBZ – insbesondere im Pflegebereich.

Von 53,3 Milliarden Gulden, die im vergangenen Jahr aus dem AWBZ-Fonds ausgegeben wurden, flossen 14,9 Milliarden in verlängerte Krankenhausaufenthalte, 10 Milliarden in Pflegeheime sowie 9,5 Milliarden in die ambulante Pflege.

Innerhalb der vergangenen sechs Jahre sind die Ausgaben für Heimpflege um fast ein Viertel gestiegen; die Gesamtausgaben der AWBZ stiegen seit 1990 jährlich um sieben bis acht Prozent. Dies liegt vor allem daran, daß die Gruppe versorgungsbedürftiger älterer Menschen ständig wächst. Daß die Versichertenbeiträge im kommenden Jahr auf 8,35 Prozent angehoben werden sollen, stimmt viele unzufrieden.

Das Gesundheitsministerium in Den Haag will der (Un-)Kostenentwicklung nun auf anderem Wege ein Ende bereiten: Bereits mehrmals verschoben, soll 1996 endgültig eine „Grundversicherung“ für alle Niederländer eingeführt werden, die Pflegeversicherung und Krankenfonds in einer Versicherung vereinigt. Der Beitrag soll zu 82 Prozent einkommensabhängig sein und nicht wesentlich über den derzeitigen Beiträgen liegen, so die Auskunft eines Sprechers des Gesundheitsministeriums. Die Versicherung werde 90 Prozent aller Dienste abdecken. Kaum jemand habe es dann noch nötig, sich zusätzlich privat zu versichern, so die Hoffnung im Gesundheitsministerium.

Auch könne der steigende Einfluß der staatlichen Versicherer einem Teil der Kostenexplosion den Garaus machen: Statt nun marktüblicher 5- bis 6.000 Medikamente in niederländischen Apotheken sollen künftig nur noch 5- bis 600 finanziert werden, die auch von der Weltgesundheitsorganisation für ausreichend erachtet würden. „Viele Gelder im Gesundheitssystem werden bisher schlicht und ergreifend verschwendet“, so der Sprecher. Auch solle die ambulante Pflege weiter ausgebaut werden. Seit Jahren ist man in den Niederlanden damit beschäftigt, Pflege in Krankenhäusern und Altersheimen durch HauspflegerInnen, die oft teilzeitbeschäftigt neben Job oder Studium arbeiten, zu ersetzen. Nur mit einem weiteren Ausbau dieser ambulanten Arbeit könne verhindert werden, daß die Ausgaben für Gesundheit für alle Beteiligten bald ins Unermeßliche wüchsen.

Große Teile der Bevölkerung stehen den Plänen des Ministeriums allerdings noch skeptisch gegenüber. Sie befürchten, daß sich ihre Versorgung verschlechtert.

Zahlreiche Ärzte, die mit dem derzeitigen System und den zahlreichen privat Versicherten sehr glücklich sind, proklamieren den medizinischen Notstand, falls die Grundversicherung eingeführt wird. Bisher ist tatsächlich noch unklar, welche Kosten die neue Versicherung übernimmt und in welchem Ausmaß die Niederländer künftig in die eigene Tasche greifen müssen.

Der Widerstand einer weiteren Interessengruppe spricht allerdings dafür, daß die Versorgung der PatientInnen so unzureichend auch künftig nicht sein kann: Die privaten Versicherungsgesellschaften haben protestiert, weil die staatliche Versicherung zuviele ihrer Dienste abdecke, die es dann nicht mehr anzubieten lohne. Jeannette Goddar

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