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■ Nie wieder Deutschland im EndspielEin Kindheitstrauma

Felsenfest war ich davon überzeugt, daß sich die Deutschen wieder ins Endspiel mogeln würden, wie schon so oft. Weil man sich heute aber nicht mehr einfach frohen Herzens wünschen darf, die Deutschen mögen schon in der Vorrunde ausscheiden und das möglichst ungerecht, ohne als „miefiger Linkshaber“ zu gelten, habe ich eine Psychotherapie auf mich geladen, um hinter das Geheimnis zu kommen. Mit Erfolg. Ich weiß jetzt, daß meine Abneigung mit einem frühkindlichen Trauma zusammenhängt.

Nein, für Fußball interessierte ich mich damals überhaupt nicht, ja, ich würde sogar sagen, daß er mir am Arsch vorbei ging. Ich wußte nicht mal, daß „wir“, wie mein Alter immer sagte, gegen die Ungarn, gegen Puschkas und Co. im Endspiel standen, und dennoch kam der Fußball wie eine kalte Dusche über mich. Sogar mein Leben hing an jenem heißen Tag im Juli 1954, als „wir“ Weltmeister wurden, an einem seidenen Faden.

Damals saß ich nicht wie der Rest der Nation vor dem Radio, um Herbert Zimmermann zu lauschen und mit ihm zu bangen und zu hoffen und „Tor, Tor, Tor, Tor, Tor,Tor, Tor“ zu brüllen bzw. „Aus, Aus, Aus, Aus, Aus, Aus, Aus“ – das hätte mir alles sowieso nichts gesagt –, sondern ich lag faul mitten in der schönen Natur an einem wildromantischen Teich und kaute auf einem Grashalm herum. Der kleine Tümpel wurde von einer Quelle gespeist, und eine alte Trauerweide streichelte mit ihren dürren Ärmchen vorsichtig und scheu das Wasser. Darüber sirrte in schillernden blauen Farben eine Libelle. Ein kleines Rinnsal bahnte sich seinen Weg ins Freie und sorgte für eine üppige Vegetation aus Brennesseln und Sträuchern, ein kleines Feuchtbiotop. Der Rest versickerte im saftigen Grün einer abschüssigen Wiese. Ich saß verträumt am Ufer und versuchte wahrscheinlich mit meinem großen Zeh, die Wassertemperatur zu erfühlen. Vielleicht hockte ich auch einfach nur da und starrte fasziniert auf die sich kräuselnde Wasseroberfläche, um quasi meditativ den Sinn der Wellenfortpflanzung oder des Lebens zu enträtseln. Keine Ahnung. Wer weiß das schon noch nach so vielen Jahren? Ich war zwei Jahre alt und irgend jemand hatte mich dort abgelegt. Aber ich kann mich noch genau erinnern, daß es mir ganz ausgezeichnet ging, denn die Sonnenstrahlen massierten mir sanft den Nacken, während ich langsam vor mich hinzudösen begann.

Diese idyllische Ruhe, der ich mich völlig hingegeben hatte, wurde jedoch plötzlich und brutal von einem Laut unterbrochen, der eindeutig nicht in dieses harmonische Konzert aus zirpenden Grillen, brummenden Hummeln und quakenden Kröten paßte. Er hörte sich nach erfolgreicher Urschreitherapie an und kam aus der Kehle meines Alten, der völlig enthemmt den Hang hinab rannte und den linken Arm in die Höhe riß. Der rechte lag irgendwo in Rußland. Der sonst eher zurückhaltende und vorsichtige Mann, der als Anerkennung für seinen Arm, den er fürs Vaterland geopfert hatte, eine ruhige Kugel beim Arbeitsamt schob, führte einen furchterregenden Veitstanz auf und brüllte dabei wie ein Wahnsinniger, als wollte er den Russen nach zwölf Jahren noch einmal gehörig Angst einjagen. „Wir sind Weltmeister“, grölte er unaufhörlich.

So hatte ich meinen Alten noch nie gesehen. Russen, die hätten davonlaufen können, waren weit und breit nicht zu sehen, dafür aber erschrak ich ganz fürchterlich. Als ich mich aufzurichten versuchte, um mir einen Überblick über die undurchsichtige Lage zu verschaffen, verlor ich das Gleichgewicht und fiel in den Tümpel. Ich haßte kaltes Wasser wie die meisten in meinem Alter und schwimmen konnte ich auch nicht, und das ganze Gerede, von wegen man müßte ein Kleinkind nur früh genug ins Wasser schmeißen, dann würde es quasi automatisch schwimmen, hätte mir damals mal jemand erzählen sollen. Ich plärrte, was meine Lunge hergab.

So kam es, daß ich schon allein aufgrund meiner frühkindlichen Prägung resistent gegen jede Begeisterung bin, in die meine Mitmenschen verfallen, wenn Deutschland wieder einmal ein Endspiel gewinnt. Aber das steht ja nun nicht zu befürchten. Dank der Kroaten kann ich mir jetzt in aller Ruhe das Endspiel angucken. Klaus Bittermann

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