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Archiv-Artikel

Nichts im Griff

Einen zarten Film über den Terror der Einsamkeit wollte Matthias Glasner machen. Doch „Der freie Wille“ (Wettbewerb) ist vor allem bedrohlich

VON DIETMAR KAMMERER

Die Geschichte endet, wie sie begonnen hat, mit einer Gewalttat. Theo (Jürgen Vogel) ist ein Triebtäter. Am Anfang des Films missbraucht er brutal eine junge Frau. Er verbindet ihr die Augen, schlägt ihr mehrfach mit der Faust ins Gesicht, bevor er sie vergewaltigt. Die Frau war, wie wir später erfahren, nicht sein erstes Opfer. Er geht in den Maßregelvollzug, weil die Ärzte sagen, er sei krank, nicht kriminell. Nach neun Jahren wird er entlassen. Er bekommt einen Sozialhelfer, einen Job, eine neue Chance. Er sagt, er habe sich jetzt im Griff, weil er nun zumindest wisse, wie gefährlich er sei. Das sei doch ein Anfang.

Ist das tatsächlich möglich: mit solch einem Wissen über sich weiterzumachen? Der Film „Der freie Wille“ sendet in einem fort widersprüchliche Signale: Bei seiner Ankunft im betreuten Männerwohnheim wird Theo gesagt, hier einzuziehen sei der Anfang vom Ende. So etwas wie Hoffnung keimt ausgerechnet in einer Szene auf, als Theo, der heimlich in die Wohnung einer schlafenden Frau eingedrungen ist, sie nur ansieht. Er versucht, seine Dämonen durch Kampfsport auszutreiben. Er trainiert wie besessen, quält seinen Körper, aber man wird das Gefühl nicht los, dass er sich, wie der „Taxi Driver“, nur vorbereitet.

Er lernt Nettie (Sabine Timoteo) kennen, die Tochter seines Chefs. Die wird von ihrem Vater psychisch ausgebeutet, obwohl sie längst eine erwachsene Frau ist. Sie setzt sich durch, aber um den Preis, fortan jede Annäherung schroff von sich abzuweisen. Zwischen Theo und ihr entsteht eine vertrackte Liebesgeschichte. Als die Wahrheit aus Theo herausbricht und er sie verlässt, verfolgt sie ihn heimlich. Der Film endet mit einer Entscheidung Theos aus freiem Willen, der letzten, die ihm noch möglich erscheint.

„Einen zarten Film über den Terror der Einsamkeit“ nennt Regisseur Matthias Glasner seinen Film. Er wirbt weder für Mitleid noch für Verständnis mit den Figuren, dazu bleibt der Schock der Anfangsszene die ganze Zeit über zu präsent. Wie ein Leitmotiv erklingt Schuberts „Ave Maria“: „Wir schlafen sicher bis zum Morgen / Ob Menschen noch so grausam sind“. Und man fürchtet sich die ganze Zeit: Wann immer Theo auf der Straße eine Frau ansieht, fürchtet man, es noch einmal miterleben zu müssen.

„Der freie Wille“. Regie: Matthias Glasner, Deutschland 163 Min. 14. 2., 12 + 15 Uhr Urania, 20 Uhr, International, 19.2., 12.30 Uhr, Berlinale Palast