: Nicht „opernhafftig“
■ Heute und morgen in St. Ansgarii: J.S. Bach mit zwei Johannes-Passionen
Anläßlich der Übernahme seiner lebenslangen Leipziger Stelle hatte Johann Sebastian Bach 1723 versichern müssen, „nicht „opernhafftig“ zu schreiben. Den Problemen seiner ungemein komplexen Stelle – er unterstand drei Dienstherren, dem Rat der Stadt, dem Rektor der Thomasschule und dem Superintendenten – begegnete er erst einmal mit einer Schaffenskraft ohnegleichen, indem er bis 1729 fünf vollständige Kantatenjahrgänge für den Gottesdienst schuf. Und mehr noch: für die 1724 uraufgeführte „Johannes-Passion“ schrieb er für 1725 ein zweite Fassung.
Die Kantorei St. Ansgarii unter der Leitung von Wolfgang Mielke bietet jetzt an zwei aufeinanderfolgenden Tagen beide Fassungen: nicht nur für Bach-Passions-Freaks ein ebenso seltenes wie spannendes Unterfangen. Wolfgang Mielke vermutet, daß die erste Fassung intellektuell zu anspruchsvoll gewesen sei, die zweite sei dagegen sehr viel volkstümlicher. Belege für eine Korrektur „von oben“ allerdings gibt es nicht, nur die Tatsache, daß sich Bach in späteren Aufführungen wieder an die Urfassung gehalten hat.
Was heißt intellektuell anspruchsvoll? Für uns heute nur noch nachvollziehbar, wenn man sich auf die damaligen Denkvoraussetzungen einläßt. Mit dem großen Eingangschor „Herr, unser Herrscher“ vor dem Bericht der Passion wird die johannäische Sichtweise – Erhöhung durch Erniedrigung – in der ersten Fassung sehr viel deutlicher als in der zweiten. Dort wird stattdessen die Choralfantasie „O Mensch bewein dein Sünde große“ herausgestellt. Dem nachgeordnet sind noch Änderungen in den Arien, in denen ebenfalls der hohe theologische Anspruch zurückgenommen wurde. Daß beide Fassungen gespielt werden, bietet eine Anregung, sich dem Meister Bach einmal denkend und nicht nur emotional zu nähern. usl
Heute abend um 20 Uhr in St. Ansgarii: Johannes-Passion von J.S. Bach, Fassung von 1725, „die unbekannte“; morgen um 20 Uhr Fassung von 1724, „die vertraute“; Norddeutsches Barock-Collegium, Kantorei St. Ansgarii, Leitung: Wolfgang Mielke
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