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Nicht ohne Schadenfreude

■ Über indische Reaktionen auf Rushdies „Satanische Verse“

Vishnu Khare

Hätte die indische Regierung die „Satanischen Verse“ nicht als erste verboten, wären Salman Rushdie und sein Buch niemals in solche Schwierigkeiten geraten, davon sind viele Inder überzeugt. Und dennoch ist das Verbot ein deutliches Indiz für die innere Zerissenheit des modernen indischen Kulturlebens. Diese Zerissenheit wird um so deutlicher, wenn man sich vor Augen hält, daß Rushdie in Indien geboren und aufgewachsen ist und das Land bislang das zentrale Thema seiner Romane geblieben ist. Die Ursache für Rushdies Verhängnis liegt aber in der spezifischen Zusammensetzung der indischen Nation. Ohne Verständnis für die tragische Haßliebe zwischen Hindus und Muslims ist die jüngere Geschichte des indischen Subkontinents nicht zu verstehen. Indien begreift sich zwar als säkulare und sozialistische Nation, in punkto Glauben und Religion ist sie jedoch mit einer 100 Millionen zählenden Muslim-Bevölkerung - von anderen Minoritäten wie Sikhs und Christen einmal abgesehen

-eine der sensibelsten der Welt.

Die Beziehung zwischen Hindus und Muslims war im postkolonialen Indien nie besonders herzlich. Die gegenwärtige Kontroverse um die Moschee bei Lakhnau, der Hauptstadt von Uttar Pradesh, löste eine neue Welle von Fanatismus und Fundamentalismus aus. Die Hindus behaupten, daß die Moschee des ersten Mogul-Königs Babar auf dem Geburtsort des legendären Gott-Königs Rama steht und fordern deshalb, daß sie dem Erdboden gleichgemacht oder an einen anderen Ort verlegt werden soll - was die Muslims natürlich niemals zulassen werden.

In diese spannungsgeladene Atmosphäre platzte die veröffentlichung von Rushdies Buch, und einige in Umlauf gebrachte zusammenhanglose Auszüge taten ihr übriges. Prompt forderten die Muslim-Führer, das Buch umgehend aus dem Verkehr zu ziehen. Die allseits gebeutelte Rajiv Gandhi -Regierung kam der Forderung nach, nicht zuletzt um auf diese Weise Zeit im Moschee-Konflikt herauszuschlagen. Jeder weiß, daß Premierminister Gandhi das Buch nicht gelesen hat, auch die Moslem-Führer beteuern, daß sie das Buch nicht kennen, wozu auch - „es stinkt doch zum Himmel“.

Salman Rushdie hatte es sich bereits mit der Mutter des Premierministers verscherzt. Wegen angeblich respektloser und verleumderischer Bemerkungen ging Indira Gandhi mit rechtlichen Schritten gegen seinen früheren Roman „Mitternachts Kinder“ vor.

Als nun die Satanischen Verse per Regierungsdekret am 5. Oktober letzten Jahres verboten wurden, flammte in der englisch-sprachigen Presse eine lebhafte Debatte auf. Radio und Fernsehen sind in Indien unter staatlicher Kontrolle und Diskussionen über solch heikle Themen äußerst selten. Der Konflikt brach von neuem auf, als Ayatollah Khomeini auf Rushdies Kopf mehr als einen Nobel-Preis ausgesetzt hatte. Angestiftet durch die Fundamentalisten unter den Muslims kam es in den mehrheitlich muslimischen Staaten und in Bombay zu Ausschreitungen, die von den fundamentalistischen Muslims gesteuert wurden und bei denen zehn Menschen ums Leben kamen. Daraufhin gratulierten die intellektuellen Unterstützer der Regierung Gandhi zum Verbot des Buchs.

Dennoch riefen eine Handvoll mutigerer Intellektueller, Autoren und Journalisten zu Demonstrationen auf und verurteilten in Leitartikeln die fanatische Zensur der Meinungs- und Pressefreiheit. Erstaunlicherweise drückten neun führende Politiker der regierenden Kongress-Partei ihr „tiefes Bedauern“ über die Morddrohung gegen Rushdie aus. Allerdings handelte es sich dabei nicht um eine offizielle Partei-Resolution. Trotz laufender Legislaturperiode gab es im Parlament bislang keine ernstzuenhmende Diskussion der Rushdie-Affaire. Im Vorfeld des für Ende des Jahres angesetzten Wahltermins wollen es sich die meisten politischen Parteien mit den muslemischen Wählern nicht verderben, von den drohenden Killerkomandos einmal abgesehen. Die meisten indischen Spitzen-Politiker leben ohnehin bereits in ständiger Todesangst vor den Terroristen der Khalistan-Bewegung des Punjabs.

Lediglich die Bharatiya Janata Partei (BJP) der Hindus und die Kommunistischen Parteien brachten den Mut auf, die Fatwa (Morddrohung) des Ayatollahs zu verurteilen, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Motiven. Die in die Hindu-Sikh -Auseinandersetzung im Punjab verwickelte BJP wird über Salman Rushdie und die Presse- und Meinungsfreiheit natürlich nur Krokodilstränen vergießen, falls sie wirklich Schaden nehmen sollten. Eine nicht geringe Anhängerschaft der Linksparteien zählt sich zu den säkularisierten Muslims, sehr wenige der Muslim-Intellektuellen bringen jedoch die Courage auf, das Todesurteil oder Publikationsverbot zu kritisieren. Nur vereinzelt wagen sie sich aus dem Schutz der Universitäten oder Institutionen vor, Tatsache ist jedoch, daß die Millionen Muslims sie nicht ernst nehmen.

Selbst die säkularisierten Hindus ziehen es vor zu schweigen, wenn sie es sich nicht vollends mit ihren muslemischen Kollegen verderben wollen. Wer setzt schon gern seine Freundschaften für einen Autor, der in einem fernen reaktionären Land wie dem konservativen Thatcher -Großbritannien lebt, aufs Spiel.

Die schauerlichste Unterstützung für Khomeinis Mordaufruf erging allerdings von Syaed Abdullah Bokhari, dem sogenannten Shahi Imam der berühmten Jama Moschee in Neu Delhi, wahrscheinlich der mächtigste islamische Geistliche in Indien. Beim letzten Freitagsgebet sprach auch er eine Fatwa aus, die Ayathollas Aufruf an alle Gläubigen, Rushdie zu töten, noch einmal bekräftigte. Außer den Hindu-Parteien wagt seither kaum noch jemand in Indien für Salman Rushdie Position zu ergreifen. Zudem haben auch noch die konservativen akademischen Muslim-Hochburgen der Aligarh Universität Rushdie und sein Buch verdammt.

Die Tatsache, daß Rushdie in englischer Sprache schreibt, mag wesentlich dazu beitragen, daß die Reaktionen der indischen Autoren so lau und gleichgültig ausfallen. Die meisten der indischen Autoren schreiben in den verschiedenen indischen Sprachen und sind kaum daran interessiert oder etwa darum bekümmert, was auf englisch publiziert wird. Nicht ganz zu unrecht gehen sie nämlich davon aus, daß kein indischer Schriftsteller dazu in der Lage ist, in einer fremden Sprache, sollte er sie noch so gut beherrschen, die indische Realität darzustellen, geschweige denn die indische Psyche zum Ausdruck zu bringen. Hinzu kommt noch die paradoxe Dominanz der englischen Sprache in allen wichtigen Bereichen der indischen Gesellschaft, die aber nur von zwei Prozent der indischen Bevölkerung gesprochen wird. Sie halten Inder, die in englisch schreiben nicht mit einiger Berechtigung für Snobs, die es vor allem auf ausländische Leserschaft, Einkommen und am Ende gar Staatsbürgerschaften abgesehen haben. Sie hassen indische Autoren wie V. S. Naipaul, Nerode Chaudhury, Sasthi Brata und Ved Mehta und jetzt auch Salman Rushdie, die, wie sie sagen, die häßliche Seite Indiens an den Westen verhökern und nur einem auf Kuriositäten versessenen, morbide soziologischen und manchmal offen rassistischen westlichen Geschmack huldigen. Deshalb mögen indische Autoren, die in indischen Sprachen schreiben, die Morddrohung gegen Rushdie, dessen Bücher in diese Sprachen übrigens nie übersetzt wurden, zwar verurteilen, aber gewiß ohne Sympathie für diesen doppelten Verräter zu empfinden, der weder in einer indischen Sprache schreibt, noch in Indien wohnt und sogar britischer Staatsbürger ist.

Und auch die weniger bekannten englischsprachigen indischen Autoren beneiden Rushdie um seinen Erfolg und seine Popularität im Westen. Ein von der Kritik und finanziell verwöhnter Autor war Rusdie schon immer, nun aber, mit dieser nie dagewesenen weltweiten Reklame und den geradezu irrsinnigen Vorschüssen und Verkaufszahlen, droht er zu einem der umstrittensten und reichsten Autoren der Literaturgeschichte zu werden.

Deshalb und wegen der schwierigen Nationalitäten- und sozialen Probleme in Indien meinen manche Autoren - auch solche, die das Verbot verurteilen - nicht ohne Schadenfreude, daß Rushdie zu hoch gepokert und sich die Finger verbrannt hat.

Erst auf Druck einiger Autoren hat die sogenannte nationale Sahitya-Akademie für Literatur den Premierminister in einer Petition dazu aufgefordert, die Morddrohung gegen Rushdie zu verurteilen. Ironischerweise erwähnt die vom Präsidenten der Akademie verfaßte Petition, weder das Verbot von Rushdies Buch, noch fordert sie, daß es rückgängig gemacht werden soll. Die Akademie kann es sich auch kaum leisten, in diesem Punkt zu provozieren: Jede Rupie die sie erhält, hängt vom Wohlwollen der Regierung. Hinzu kommt noch, daß die Akademie kaum Befürworter unter den bedeutenden Autoren des Landes hat. Und tatsächlich: Gerade als der Präsident der Akademie seinen Brief zum Premierminister brachte, forderte Khushwant Singh - bekannter und umstrittener Sikh-Autor und Journalist - die Abschaffung der Akademie, „wegen des unabsehbaren Schadens, den sie der indischen Literaturwelt angetan hat“. Singh, Redakteur beim britischen Penguin-Verlag, hatte den Krieg den Krieg um die „satanischen Verse“ vorausgeahnt und sprach sich gegen eine Veröffentlichung der jetzigen Fassung aus.

Als einer der wenigen, die das Glück hatten, das Buch zu lesen, bevor es verboten wurde, fand ich den Roman interessant, stellenweise sogar bewegend. Es ist ein sehr schwieriges, einzigartig komplexes, indisch-muslimisches Buch. Es steckt voller Anspielungen, Wortspiele und Insiderwitze, über die sich wahrscheinlich nur ein Inder amüsieren kann. Und noch größer wäre das Vergnügen, wenn dieser Inder ein Muslem wäre. Das Buch dreht sich unmißverständlich um den Islam. Es steht nie in Frage, daß Rushdie eine große Bewunderung für den Propheten Mohammed hegt, obwohl er einige seiner Visionen und Methoden mit der Frechheit eines verwöhnten Lieblingsmeßdieners in Frage stellt.

Nichteingeweihte könnten das Buch für entsetzlich langweilig und verwirrend, einige Stellen sogar für völligen Unsinn halten. Alles darin ist eine Herausforderung: die verschiedenen Sprach- und Stilebenen, das Hin und Her zwischen dem Zeitalter des Propheten und der Gegenwart und zwischen der hindu-muslimischen und der britischen Kultur. Dennoch befindet sich das wirkliche Publikum hier in Indien, und darum handelt es sich auch um eine indisches Kunstwerk. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß dieses Buch letztlich eine Rehabilitierung des Islams und seiner Propheten sein wird. Wenn ich ein Hindu-Fanatiker wäre, würde ich dieses Buch als eine verteufelt clevere Glorifizierung des Islam und seines Propheten Mohammed lesen. Daß das Buch jetzt von Leuten, die es noch nicht einmal gesehen haben, verboten wird und in den Schmutz gezogen werden darf, daß sein Autor gebrandmarkt und für einen religiösen Mord freigegeben wird, spricht satanische Bände über die erbärmlich feigen und abscheulich fanatischen Paradoxa unserer Zeit.

Vishnu Khare ist Hindlyriker und -kritiker, Mitherausgeber der 1983 im Verlag Wolf Mersch erschienen Gedichtanthropologie „Der Ochsenkarren“ und hat 1984 unter dem Titel „Ham chikhte kyon nahin“ (Warum schreien wir denn nicht) eine Sammlung eigener Übersetzungen deutscher Lyrik ins Hindi vorgelegt. Khare lebt mit seiner Familie als Journalist in Neu Delhi.

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