berliner szenen: Nicht mit dem Fahrer sprechen
Sprechen ist nicht, schreiben schon. Seit ich von der magischen Direktverbindung zu den Lokführer*innen erfahren habe (siehe Berliner Szene von gestern) tun sich in meinem Kopf ganz neue Welten auf: Ich stelle mir vor, wie sie nach Schichtende ihre Fanpost vom Boden aufpicken, Liebesbriefe und Grußkarten, Rechnungen und Strafzettel, Bonbon- und Kaugummipapier, die geheimnisvolle Unbekannte via Türschlitz übermittelt haben.
„Danke“ steht drauf, „deine Stimme ist meine liebste Monotonie.“ Eingeweihte stecken den Fahrer*innen, die sie tagein, tagaus durch die Gegend kutschieren, Taschentücher zu, denn die kann man immer gebrauchen, mitunter auch ausgelesene, sehr schmale Bücher (Reclam-Hefte bieten sich an), ein vergessenes Handy, liegen gelassene Handschuhe, Michael Müllers Portemonnaie, und – warum nicht – diese imaginierte Berliner Szene? Sharing is caring, sagen sie doch. Mit klopfendem Herzen hinterlässt jemand Namen und Nummer, animiert durch nichts als eine Lautsprecherstimme und die befreiende grenzenlose Anonymität der Großstadt: Wieso sollte nicht ausgerechnet hinter dieser Trennwand die womöglich beste Entscheidung meines Lebens lauern? Tinder hat Blind Dating abgeschafft, die zwischenmenschlichen Beziehungen sind deshalb keineswegs solider.
Wieso also nicht mal wieder unkonventionell sein und Kontakt aufnehmen mit dem*r Lokführer*in? Vielleicht wartet ein witziger Abend, ein*e neue*r Freund*in, vielleicht wird der fortschrittliche Flirtversuch aber auch achtlos in den Mülleimer befördert, ohne dass der oder die Auserwählte ihn überhaupt zur Kenntnis genommen hätte; dann könnte man immer noch schelmisch und ein wenig stolz über die eigene Kühnheit in sich hineinlachen. Marielle Kreienborg
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