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Nicht die Zeit des Sterbens

■ Dokumentation: Eine behutsame Predigt zur Geiselaffaire im Dom

Wenige Tage, nachdem die beiden Bremer Geiseln Silke Bischoff und Emanuele de Giorgi getötet worden waren, predigte Dompastor Günter Abramzik über das Geschehen. Wir dokumentieren im folgenden Auszüge aus seiner Ansprache.

Zunächst der Predigttext aus der Bibel:

„Ein Jegliches hat seine Zeit. Und alles Vornehme unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden und Sterben. Pflanzen und Ausrotten, was gepflanzt ist. Weinen und Lachen. Klagen und Tanzen. Suchen und Verlieren. Behalten und Wegwerfen. Lieben und Hassen. Streit und Friede hat seine Zeit. Man arbeite, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon. Ich sah die Mühe, die Gott den Menschen gegeben hat, daß sie darin geplagt werden. Er aber tut alles fein zu seiner Zeit und läßt ihr Herz sich ängsten, wie es gehen solle in der Welt. Denn der Mensch kann doch nicht treffen das Werk, das Gott tut ...“ (Prediger, 3. Kap.)

„(...) Liebe Gemeinde (...) Wer wußte schon in der letzten Woche, was an der Zeit war? War die Lust, am Entsetzen der Welt teilzunehmen, an der Zeit? War es wirklich nötig, daß Reporter und Fernsehleute mit den Verbrechern sprechen konnten wie in einer Talkschow und die Opfer, die wenige Stunden später getötet wurden, in der Kamera gezeigt wurden? War es an der Zeit, daß wir am Fernsehapparat saßen und uns das ansahen? Ist es an der Zeit, daß wir danach nicht einmal trauern konnten? Und daß dringende Bitten, die Musik hier beim Internationalen Sommer auf dem Markt abzustellen (...), gestern schon nicht mehr gehört wurden? Weil es eine andere Zeit gibt. Die Zeit welcher Leute? Und möglicherweise gehören wir alle dazu. Es ist die Zeit, die uns nicht mehr ruhen läßt. Eine lebenzerstörende Unruhe hat viele Menschen erfaßt, und das Wort des Predigers ist heute sicherlich das notwendige Wort (...): 'Es ist besser, eine Hand voll mit Ruhe, denn beide Fäuste voll mit Mühe und Haschen nach Wind.‘ (...)

Es hat gefehlt in dieser Zeit der Klage und der Anklage, das mitfühlende tröstende Wort. Keiner derjenigen, die sich zu Wort meldeten im Fernsehen, war fähig, der Opfer zu gedenken. Die meisten rechtfertigten sich und suchten immer den Falschen. Denn sie waren es, die gefordert wurden, und sie bekamen eine einmalige Chance, angefangen von den Bremer Gesichtern, die wir gesehen haben über Bonn, etwas zu den Menschen zu sagen und nicht etwas zu ihrer eigenen Rechtfertigung. (...)

Warum kommen nicht andere zu Wort, damit die Menschlichkeit auch gezeigt wird? Aber wie zeigt es sich denn, daß wir eine Seele haben? Im stillen Beobachten, im Reden mit vorgehaltener Hand - nicht. Sondern im Neinsagen zu einigen Dingen, die unter uns geschehen. Der Abschied von der Sensation, der wäre an der Zeit. Die Einkehr in sich selbst (...) Wir sind alle gedemütigt worden...

Das was über Jesus Christus gesagt wird, das wird mühsam erobert im Wissen, was an der Zeit ist. Im Weinen und Lachen im Streit und im Frieden und in dem Wissen, daß es eine Zeit gibt des Lebens und des Sterbens.(...)

Günter Abramzik

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