Nicht-Jüdin über das Jiddische: "Die Angst steckt noch in jeder Zelle"
Die Hamburgerin Dorothea Greve hat keine jüdischen Wurzeln. Trotzdem hat sie sich irgendwann ins Jiddische verliebt, das aus vielen Sprachen zusammen gesetzt ist. Seit bald 30 Jahren singt, lehrt und übersetzt sie es. Seit der Unterdrückung durch Stalin halten sich Muttersprachler bedeckt
taz: Frau Greve, wann waren Sie zuletzt im moldawischen Städtchen Chisinau?
Dorothea Greve: Das war im Jahr 2004. Im Jahr darauf ist Shraibman dann ja gestorben.
Shraibman?
Yechiel Shraibman, der letzte große jiddische Literat Bessarabiens, war Anlass zweier Reisen dorthin. Er und seine Frau hatten mich eingeladen, und ich hatte das Privileg, lange Gespräche auf Jiddisch mit ihm zu führen.
Wie kamen Sie auf ihn?
Mein Kollege und Lehrer Günter Marwedel, der bis in die 90er Jahre hinein an der Hamburger Universität einen Jiddisch-Lehrauftrag hatte, hatte ihn in einem Seminar über sowjet-jiddische Literatur vorgestellt. Shraibman gefiel uns am besten, weil er am weitesten weg war vom offiziellen Stil des sozialistischen Realismus. Außerdem gefiel mir seine saftige Prosa. Sie bietet viele Dialektismen, die es nur im bessarabischen Jiddisch gibt. Bei Shraibman hatte sich der Dialekt des Schtetls quasi unverfälscht erhalten.
Wie viele Jiddisch-Varianten gibt es?
Das Jiddische hat etliche Dialekte. Dem Deutschen sehr ähnlich war zum Beispiel das inzwischen ausgestorbene Westjiddische, das unter anderem in Deutschland gesprochen wurde. In Litauen herrscht das Nordostjiddische, in Polen das Zentraljiddische vor. Und die Ukraine und Bessarabien benutzen das südostjiddische Idiom. In der letztgenannten Regionen gibt es heute aber nur noch weniger Sprecher.
55, ist studierte Germanistin, Anglistin, Erziehungswissenschaftlerin und Sprachlehrforscherin. Außerdem hat sie einen Master in Jiddisch erworben.
Mit dem Jiddischen befasst sie sich seit 1976. Seit 1985 lehrt sie unter anderem an den Universitäten in Hamburg, London und Urbino sowie in der Erwachsenenbildung.
Sie war Mitbegründerin und langjähriges Vorstandsmitglied der Hamburger Salomon-Birnbaum-Gesellschaft, die auch Übersetzungen jiddischer Literatur fördert. Darüber hinaus tritt sie als Jiddisch-Sängerin auf, unter anderem beim Festival "Yiddish Summer Weimar".
Aber muss man als Deutscher Jiddisch lernen? Die Sprachen sind sich so ähnlich, dass man vieles versteht.
Das ist ein Trugschluss. Das Jiddische hat zwar mittelhochdeutsche Wurzeln, aber wie hoch der Anteil des Deutschen ist, lässt sich nicht pauschal sagen. Es gibt zum Beispiel Wörter mit hebräischem Stamm, einer deutschen Vorsilbe und einer slawischen Endung. Wo wollen Sie die einordnen? Hinzu kommen viele Ausdrücke der jeweiligen Region. Und ein Jiddisch mit litauischen oder ukrainischen Worten verstehen auch Deutsche nicht mehr.
Hat das Jiddische einen Wortschatz, den alle teilen - von Vilnius bis New York?
Ja, den gibt es. Hinzu kommen allerdings regionale Dialekte. Zudem gab es in einer Stadt wie Wilna Wissenschaftler, die versuchten, eine überregionale Standardsprache zu entwickeln. In Wilna hat sie sich auch bis zu einem gewissen Grade durchgesetzt. Trotzdem hinderte das die Sprache natürlich nicht daran, sich zu verändern und weiter zu tun, was sie tat: zu adoptieren, zu adaptieren und neues Sprachmaterial der jeweiligen Umgebung aufzunehmen.
Warum interessieren Sie sich eigentlich für Jiddisch? Haben Sie jüdische Wurzeln?
Nein. Und eigentlich war ich in den Siebzigern, als mein Interesse erwachte, in Stuttgart für Germanistik, Anglistik und Pädagogik eingeschrieben. Im Laufe meines Mediävistik-Studiums habe ich dann im Radio jiddische Musik gehört. Es sang Tova Ben Zvi, eine Überlebende des Lodzer Ghettos. Das wusste ich damals noch nicht, aber mich faszinierte diese Musik. Viele Jahre später habe ich sie bei einem Vortrag in Israel kennengelernt, und seither sind wir befreundet.
Wie haben Sie jiddisch gelernt?
In Deutschland konnte man damals nicht Jiddisch studieren. 1976 erfuhr ich, dass es in Stuttgart einen der wenigen deutschen Jiddisten gab, Wulf-Otto Dreeßen. Mit seiner Hilfe habe ich mich in das Jiddische eingearbeitet und dann eine Prüfung bei ihm abgelegt. Am Ende sagte er: "Wenn Sie sich weiter mit Jiddistik befassen wollen, müssen Sie ins Ausland gehen. Ein intensives Studium können wir in Deutschland nicht bieten." Er stammte, wie alle damaligen deutschen Jiddisten, aus Hamburg, wo Salomo Birnbaum 1922 den ersten Lehrauftrag für Jiddisch an einer westeuropäischen Universität bekommen hatte. Aber auch er sprach kein Jiddisch von Haus aus. Keiner der ersten deutschen Jiddisten tat das.
Warum nicht?
Sie waren nicht damit aufgewachsen, und es wurde nirgends gelehrt.
Gab es in Deutschland keine Holocaust-Überlebenden, die Jiddisch sprachen?
Doch. Aber sie lehrten nicht. Es war eine andere Zeit.
Warum haben Sie trotz des kargen Lehrangebots Jiddisch studiert?
Weil ich mich in die Sprache verliebt hatte und ihre Literatur im Original lesen wollte.
Und weil das Jiddische als so "heimelig-humorig" gilt?
Nein. Ich halte es für ein Klischee zu sagen, das Jiddische sei humorvoller als andere Sprachen. Ich finde allerdings schon, dass das Jiddische als Fusion verschiedener Sprachen besonders viele Möglichkeiten hat, Dinge auszudrücken. Ins Jiddische sind Polnisch, Russisch, Hebräisch, Aramäisch, Mittelhochdeutsch, sogar Altitalienisch und Altfranzösisch eingeflossen. Jede dieser Sprachen hat strukturelle Besonderheiten, und das Jiddische vereint sie. Dadurch ist es reich geworden. Teilweise allerdings auch unübersetzbar. Das Wort "grinink" etwa müsste man mit "grünchen" übersetzen …
Sie übersetzen auch jiddische Literatur. Liegt da vieles brach?
Ja - und zwar nicht nur in Bezug auf die Menge, sondern auch auf die Qualität. Viele Übersetzungen sind hölzern und nicht mehr zeitgemäß. Und wie wir einen Shakespeare immer wieder neu übersetzen, müssen wir das auch bei jiddischer Literatur tun. Da fruchtet es auch nicht, wie es einige Übersetzer getan haben, die jiddische Struktur ins Deutsche zu übertragen.
Weshalb musste das scheitern?
Jiddisch ist eine moderne Sprache, ihre Literatur von Weltrang: der jüdisch-polnische Autor Isaac Bashevis Singer hat nicht umsonst 1978 den Literatur-Nobelpreis bekommen. Warum also soll eine Übersetzung auch im Deutschen Jiddisch klingen? Um ein Klischee zu bedienen? Genau das wollen meine Mitstreiter von der Hamburger Salomo-Birnbaum-Gesellschaft, der ich lange vorstand, und ich nicht. Deshalb haben wir viele Jahre lang im stillen Kämmerlein versucht, moderne jiddische Literatur in ein modernes Deutsch zu übertragen. Publiziert haben wir einiges davon - mehrere Erzählungsbände zum Beispiel - erst in den letzten Jahren. Unabhängig davon haben wir viel über den Reichtum an jiddischen Ausdrucksmöglichkeiten gelernt. Der hat uns oft ganz hilflos gemacht. Jiddisch gilt ja als schwer übersetzbar. Veröffentlichungen sind schwierig: Die Verlage sind vorsichtig geworden, denn ein jiddisches Buch verkauft sich einfach nicht. Damit kann man kein Vermögen machen.
Und mit Lehren und Übersetzen keine Universitätskarriere. War Ihnen das zu Beginn Ihrer Studien klar?
Im Grunde ja. Trotzdem hegte ich die vage Hoffnung, dass es mit der Zeit mehr Jiddisch-Lehrstühle geben würde. Das trat aber leider nicht ein. Selbst an der Trierer Universität, wo man immerhin noch ein Jiddisch-Examen ablegen kann, sind die Kurse massiv gekürzt worden. Was bleibt, sind Lehraufträge, wie wir sie in Hamburg haben.
Sie unterrichten an Universitäten und in der Erwachsenenbildung. Wer besucht denn Ihre Kurse?
Eine bunte Mischung aus Menschen, die eine Facette ihrer Identität suchen. Menschen, die jüdische Vorfahren oder jiddischsprachige Freunde haben. Andere haben im Kibbuz Jiddisch gehört und wollen es lernen. Manchmal kommen auch Sänger oder Schauspieler, die mit Jiddisch auf die Bühne gehen. Oder ein Religionswissenschaftler oder Historiker, der sich mit jüdischer Geschichte in Osteuropa befasst.
Kommen aus der Sowjetunion stammende Juden zu Ihnen - als Muttersprachler?
Einige wenige. Oft hängen sie ihre Jiddisch-Kompetenz nicht an die große Glocke, weil das angstbesetzt ist. In der Sowjetunion war es ja unter Stalin verboten, in der Öffentlichkeit Jiddisch zu sprechen. Diese Angst steckt den Leuten noch in jeder Zelle.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Experten warnen vor Trump-Zöllen
Höhere Inflation und abhängiger von den USA
Die Brennelementefabrik und Rosatom
Soll Lingen Außenstelle von Moskaus Atomindustrie werden?
Klimagipfel in Baku
Nachhaltige Tierhaltung ist eine Illusion