Neuwahl-Urteil in Schleswig-Holstein: Das Murren beginnt
Schwarz-Gelb will in Schleswig-Holstein noch zwei Jahre regieren und Peter Harry Carstensen so lange zwar nicht mehr Parteichef, aber doch Ministerpräsident bleiben. Streit um neues Wahlgesetz beginnt.
Es ist ein Abschied auf Raten. Das Neuwahl-Urteil des Schleswiger Verfassungsgerichtes war nur wenige Stunden alt, da zog Peter Harry Carstensen die erste, halbherzige Konsequenz. Montagabend verkündete der 63-Jährige, er werde sein Amt als Parteichef am 18. September aufgeben, den Weg für seinen designierten Nachfolger, Fraktionschef Christian von Boetticher, frei machen. Damit ist von Boetticher als zukünftiger CDU-Spitzenkandidat gesetzt, auch wenn er selbst höflich betont, Carstensens Teil-Rückzug sei "keine Vorentscheidung über die Spitzenkandidatur für die Landtagswahl 2012". Wobei die Betonung auf 2012 liegt.
So lange will Carstensen auf alle Fälle Ministerpräsident bleiben, die vom Gericht gesetzte Frist voll ausschöpfen. Das Urteil der Verfassungsrichter, bis spätestens September 2012 Neuwahlen durchzuführen, interpretiert Carstensen so, dass am 30. September, dem allerletzten möglichen Termin, die Schleswig-Holsteiner an die Urnen gerufen werden. Und keinen Tag früher.
Der sich bundesweit im Abwind befindende Koalitionspartner will ohnehin so lange wie nur möglich mitregieren. Mit seiner Fristsetzung habe das Gericht "deutlich gemacht, dass ein Zeitdruck nicht besteht", richtet sich FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki schon einmal auf zwei weitere schwarz-gelbe Jahre ein.
Das Schleswiger Landesverfassungsgericht wurde im Mai 2008 gegründet. Es fällte vergangenen Montag erst sein zweites Urteil.
Im Proporz: Die sieben Richter wurden vom Landtag mit Zweidrittelmehrheit für sechs Jahre gewählt - streng nach Proporz. Vier Richter zogen auf CDU-Ticket in das Gericht ein, drei - darunter der Vorsitzende Bernhard Flor - auf Vorschlag der SPD.
Ehrenamtlich: Die fünf Männer und zwei Frauen arbeiten ehrenamtlich. Nicht alle von ihnen sind auch im Hauptberuf Richter, auch Anwälte und Hochschullehrer sind dabei.
Die Opposition aus SPD, Grünen und Linken fordert zwar schnelle Neuwahlen, am besten schon 2011, doch mehr als einen Appell hatte sie kurz nach Verkündung des Urteils nicht zu bieten. Am konkretesten wurden bislang die Grünen. Sie brachten wenige Stunden nach dem Richterspruch einen Dringlichkeitsantrag auf den Weg. Darin wird der Landtag aufgefordert, die Überarbeitung des Wahlgesetzes noch 2010 abzuschließen, damit es "im Mai 2011 zu Neuwahlen kommt".
Als Vorlage haben die Grünen bereits vergangenen September eine Wahlgesetzänderung präsentiert. Sie sieht vor, die Zahl der Wahlkreise von 40 auf 30 zu verkleinern, so dass Überhangmandate unwahrscheinlich werden.
"Obwohl alle Experten diesen Entwurf für verfassungsgemäß halten, wurde er vor dem Urteil nie ernsthaft im Landtag diskutiert", klagt die grüne Landesvorsitzende Marlene Löhr. Besonders die SPD tue sich "mit der Reduzierung der Wahlkreise unheimlich schwer". Zwar glaubt Löhr nicht an einen Urnengang im kommenden Mai, doch nach einer schnellen Änderung des Wahlgesetzes sei "ein Wahltermin im Herbst 2011 durchaus realistisch".
"Wir werden den Dringlichkeitsantrag der Grünen zum Landeswahlgesetz unterstützen", sagt Uli Schippels, Parlamentarischer Geschäftsführer der Linken-Landtagsfraktion der taz. Auch die SPD drückt aufs Tempo. "Wir wollen noch in diesem Jahr zu einem Wahlgesetz kommen, dem alle Parteien zustimmen können, um dann 2011 zur Neuwahl zu kommen", kündigte SPD-Landeschef Ralf Stegner an.
Allerdings müssten, anders als von den Grünen vorgesehen, "nach diesem drakonischen Urteil viele Fragen noch geklärt werden", von der Reduzierung und dem Neuzuschnitt der Wahlkreise bis hin zum Mischverhältnis von Erst- und Zweitstimmen. Während Stegners-Vize Peter Eichstädt ätzt, die Regierung sei nach dem Urteil "a lame duck", eine lahme Ente ohne Legitimation und Entscheidungsmacht, sieht Stegner sie "quasi nur noch geschäftsführend im Amt".
Während sich bei einer Umfrage des NDR am Dienstag bis Redaktionsschluss 84 Prozent der Teilnehmer für möglichst baldige Neuwahlen aussprachen, sieht der Kieler Politologe Joachim Krause die kommende Zeit im Kieler Landtag "überschattet von Debatten, wann die Neuwahl stattfinden soll". Das könnte laut Krause erst 2014 geschehen: Er hält das Urteil des Schleswiger Verfassungsgerichts für verfassungswidrig, da es eine verfassungsmäßig festgelegte fünfjährige Legislaturperiode nicht einfach verkürzen könne. Krause rät CDU und FDP deshalb, die Angelegenheit vor dem Bundesverfassungsgericht klären zu lassen.
Wie gut, dass da Sesselkleber Carstensen schon vorher versprochen hatte: "Wir werden das Urteil akzeptieren."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour