Neurowissenschaften und Lernen: Was macht das Hirn in der Schule?
Der Hirnforscher Gerhard Roth fordert mehr Offenheit im Bildungssystem. Die Erkenntnisse aus Neurowissenschaften und Psychologie sollen angewendet werden.
BERLIN taz |Der "Pisa-Schock", der vor zehn Jahren mit den ersten internationalen Schülervergleichstests über die Nation hereinbrach, hat viel bewirkt. Unter anderem führte er dazu, dass Bildung und die Bedingungen, unter denen in Deutschlands Schulen gelernt wird, seitdem wieder weit oben auf der Agenda des öffentlichen Diskurses stehen. Auch der Popularität der Neurowissenschaften war das gestiegene Publikumsinteresse an schulischen Hirntätigkeiten noch weiter zuträglich.
Der Bremer Neurobiologe Gerhard Roth, in Deutschland bekanntester Vertreter seines Faches, hat nun ein Buch vorgelegt, in dem er einen großen Bogen über alle Bereiche schlägt, die für eine neurowissenschaftlich fundierte Unterrichtsdidaktik eine Rolle spielen müssten. Mit dem Begriff der "Persönlichkeit" bringt Roth bereits in den Buchtitel den erklärtermaßen konstruktivistischen Anspruch seines Ansatzes ein. Auf dem Weg zu dem Ziel, einer am einzelnen Individuum orientierten Didaktik zuzuarbeiten, legt die vorliegende Veröffentlichung immerhin eine Teilstrecke zurück.
Das Material, das Roth auffährt, ist in seinem schieren Umfang beeindruckend, der inhaltliche Bogen, den er schlägt, gigantisch. Dabei gibt es für die Laiin - für die dieses Buch doch auch geschrieben wurde? - viel nachzulernen in puncto Neurobiologie, und man fühlt sich mitunter, wie Prof. Dr. Dr. Roth selbst sich fühlen würde (sein eigenes Beispiel), geriete er plötzlich in einen mathematischen Fachvortrag.
Da dem Langzeitspeicher im Laienhirn das Vorwissen fehlt, das ermöglichen würde, aus schon Bekanntem das Neue und damit Erkenntnistragende herauszufiltern, entsteht durch überhöhten Input oft Überforderung, und im Hirn beginnen spürbar die Synapsen ihren Dienst zu verweigern, wenn sie zu lange vergeblich auf Kontaktsuche umhergefunkt haben. Da muss dann manchmal der kleine Lektürezwischenschlaf helfen oder feiges Querlesen.
Insgesamt ist Roths Argumentationsabsicht nachvollziehbar, doch fehlen dem großen Bogen die kleinen Anknüpfungspunkte, die erst aus der Themensammlung eine These machen würden. Da geht es einerseits um verschiedene Persönlichkeitstheorien (von der Antike bis zu heutigen psychologischen Modellen), dann wieder sehr grundlegend um physiologische Vorgänge wie Sehen und Hören, schließlich um verschiedene Theorien der Unterrichtsdidaktik.
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Intelligenz ist zu gut 50 Prozent angeboren
Interessant wird es dort, wo komplexere kognitive Prozesse zur Sprache kommen, Fragen wie jene, wie viele Einheiten (chunks) das Arbeitsgedächtnis auf einmal verarbeiten kann, und inwieweit Intelligenz entwicklungsfähig ist. Dass Letztere zu gut 50 Prozent - und damit deutlich stärker als andere Eigenschaften - bereits bei der Geburt angelegt ist, stellt Roth ausführlich heraus; deutlich weniger ausführlich kommen Fragen der Lernmotivation zur Sprache, durch die es unter Umständen möglich werden könnte, angeborene Defizite im Laufe eines Lebens auszugleichen.
Womöglich fällt es ja gar nicht in den ureigenen Aufgabenbereich der Neurobiologie, eine führende Rolle bei der Ausarbeitung einer am Individuum und seinen jeweiligen Voraussetzungen orientierten Bildungstheorie zu spielen. Doch was man sich von einem Buch, das immerhin den Ansatz dazu wagt, auch erhofft hätte, sind Hinweise auf spezifische kognitive Eigenheiten, die schulischen Erfolg in der Praxis oft erschweren, wie etwa Legasthenie oder Rechenschwäche. Oder: Was passiert, wenn Linkshänder schreiben lernen? Und: Was geht bei Kindern, die an einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung leiden, eigentlich im Hirn ab? Wären all diese bekannten Abweichungen nicht gutes oder sogar notwendiges Beispielmaterial bei der Formung einer konstruktivistischen Lerntheorie? Oder ist der Forschungsstand hier noch zu disparat?
"Wie Lernen gelingt", ist nach Lektüre natürlich nur ansatzweise beantwortet. Wie weit aber das wissenschaftliche Feld ist, auf das diese Frage führt, ist umso deutlicher geworden. VertreterInnen vieler verschiedener Disziplinen werden zu ihrer Beantwortung gebraucht werden. Ohne die Neurobiologie geht es jedenfalls nicht.
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