Neupräsentation: Mehr als verspielte Ornamente
Das Museum für Kunst und Gewerbe hat seine Jugendstilsammlung neu interpretiert. Das Ergebnis: Die Sonderschau „Jugendstil. Die große Utopie“.
HAMBURG taz | Verspielt? Vielleicht. Und irgendwie steckt auch die geschwungene Linie drin. Aber was haben diese Schlangenlinien tanzenden Nackedeis mit all dem zu tun, was die Kunstgeschichte Jugendstil nennt? Und was mit den floralen, dekorativen Ornamenten, die man heute gemeinhin damit verbindet? Ganz unbeschwert jedenfalls kommen sie einem gleich hinter dem Eingang zur neuen Sonderausstellung „Jugendstil. Die große Utopie“ im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe auf der Leinwand entgegen: Hand in Hand läuft ein Reigen nackter Freilufttänzerinnen durch die unberührte Natur am Monte Verità im Schweizer Tessin.
Eine der bedeutendsten Wiegen der Alternativkultur war die „Vegetarische Cooperative“, die der deutsch-österreichische Künstler und Aussteiger Gusto Gräser gemeinsam mit seinem Bruder Karl im Herbst 1900 dort gegründet hatte. Vegetarismus, Freikörperkultur und Ausdruckstanz; Theosophie, Anthroposophie und nietzscheanische Lebensbejahung; Pazifismus und Anarchismus; die gerade entstehende Psychoanalyse und ein neues Interesse an östlichen Weisheiten. All das trifft in der lebensreformerischen Künstlerkolonie aufeinander: Ein gemeinschaftlich gelebtes Experiment für kulturelle Erneuerung jenseits der zunehmend als negativ erlebten Auswirkungen der Industrialisierung – eine große Utopie und so etwas wie die Urszene des Jugendstils.
Seit vergangener Woche begleitet die Sonderschau die Neueinrichtung der Jugendstilsammlung des Hauses. Weltweit gehört sie zu den bedeutendsten ihrer Art. Nun lässt Kuratorin Claudia Banz sie mit neuen Fragestellungen und Themen und zugleich in Auseinandersetzung mit den ursprünglichen Präsentationsformen aus der Zeit ihrer Erwerbung im neuen Licht erscheinen. Seit ein paar Jahren krempeln Banz und ihre KollegInnen das Museum um, interpretieren die Sammlung neu, zeigen die Dinge im Kontext, reduzieren sie statt mit der Masse der Objekte zu protzen.
Begründet hat die Jugendstilsammlung des Hauses der Gründungsdirektor des Museums Justus Brinckmann in ebenjener Zeit der Umbrüche und Neudefinitionen, im Sommer 1900 – das Jahr, in dem auch die Kommune am Monte Verità gegründet wurde. Brinckmann reiste zur Weltausstellung nach Paris, kaufte Möbel und Teppiche, Keramiken, Glasgegenstände und Schmuckstücke, Bucheinbände und Plakate. Ganze Raumensembles wie den „Pariser Saal“ erwarb Brinckmann, der nun im Mittelpunkt der Neueinrichtung der Dauerausstellung steht.
Es waren umfangreiche, ganz gezielt getätigte Neuerwerbungen, die einem neuen Konzept folgten: nicht mehr historisch, sondern zeitgenössisch sammelte Brinckmann, richtete das Museum auf innovative Gegenwartstendenzen aus, wollte es von der pädagogischen Vorbildersammlung zum Sammlermuseum und zum aktiven Teilnehmer an zeitgenössischen Diskussionen machen.
Die von Leonie Beiersdorf kuratierte Sonderschau stellt der neu eingerichteten Welt der Objekte in acht thematischen Gruppen im Mittelgang dazu bis Anfang 2016 die Welt der Ideen gegenüber. Sie rückt die Motivation der Künstler, die gesellschaftspolitischen Impulse ins Zentrum. Einen weiten Bogen spannt die Sonderschau, von den Lebensreformern über Karl Marx’„Kapital“ und die gesellschaftskritische Novelle „Kunde vom Nirgendwo“ des britischen Reformkünstlers und Mitgründers der „Arts and Crafts“-Bewegung William Morris bis zur Bedeutung Nietzsches und der zarathustrischen Verehrung für den alle Werte umwertenden Philosophen. Von der Inspiration durch Kunsthandwerk und Malerei aus Japan über Ernst Haeckels „Kunstformen der Natur“ bis zur Pariser Affichomanie und Plakaten aus dem Salon des Cent und für die Münchener, Wiener und Darmstädter Sezessionen.
Mit wenigen, dafür umso beeindruckenderen Versatzstücken vermittelt die Schau einen guten Eindruck von der Aufbruchstimmung, die die Protagonisten der nur ein paar Jahre später schon wieder zu Ende gehenden kurzen Epoche motiviert hat.
Dass das Licht neben der Bewegung einer der Leitbegriffe der künstlerischen und reformerischen Neuorientierung war, das wird immer wieder deutlich. Den neuen Kult um die Gesundung des Körpers in und an der Natur, die Suche nach größtmöglicher Natürlichkeit bebildert neben Fotos von gemeinschaftlich landarbeitenden Nackedeis oder einem aus Ästen gebogenen Stuhl aus der Zimmereinrichtung Karl Gräsers ein heute naiv anmutender Apparat: Ein hygienisches Lichtbad, das den Körper des Stadtmenschen auch dort mit Licht und Wärme versorgen sollte, wo die konventionelle Kleidung das Sonnenlicht nicht durchlässt. So etwas wie der Vorläufer der Biosauna in heutigen Wellness-Tempeln.
Dass die technischen Errungenschaften der Jahrhundertwende nicht für alle Protagonisten der kulturellen Neuorientierung Ausdruck gefährlicher sozialer Vermassung war, das zeigt auch die Themengruppe, die der als „Fée de l‘Electricité“ bekannten Tänzerin Loïe Fuller gewidmet ist. Um 1900 war sie in Paris ein Idol, tanzte körperbetont in schleierartigen Gewändern, auf die sie nach genauer Regie buntes Licht projizieren ließ.
Es ist nicht die umfassende kunstgeschichtliche Einordnung, die die Sonderschau sich vornimmt. Statt zu erklären, lässt sie Kontexte nachempfinden und neue Perspektiven auf den oft eben auf hübsches Dekor reduzierten Jugendstil gewinnen: als große Utopie, deren Impulse bis heute weiterwirken. Das macht sie zur spannenden Ouvertüre für den Gang durch die neu eingerichtete Jugendstilsammlung.
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