Neuorientierung an einem alten Wert: Das Comeback der Gleichheit
Die Sozialdemokraten haben den Begriff der "Gleichheit" entsorgt, zur "Chancengleichheit" geschrumpft. Doch mehr Gleichheit nutzt modernen Gesellschaften. Kommt die Parole zurück?
Der Begriff soziale Gleichheit hat etwas Mausgraues. Er ist assoziiert mit Gleichmacherei, Uniformierung, Totalitärem. Die Warnung vor den Abgründen der Gleichheit gehört seit 200 Jahren zum Standardrepertoire der Rechten. Alexis de Tocqueville, wohl noch immer der einflussreichste konservative Denker, entwarf die Formel, dass Freiheit und Gleichheit sich letztlich ausschließen.
Die Sucht nach Gleichheit, so Tocqueville, "reizt den Schwachen, die Starken auf ihre Stufe herabzuziehen; sie verleitet die Menschen, einer Ungleichheit in der Freiheit die Gleichheit in der Knechtschaft vorzuziehen." Gleichheit steht, bei Tocqueville und Neoliberalen wie Hans-Olaf Henkel heute, unter dem Verdacht, sich aus dem unschönen Gefühl des Neids zu speisen. Den Konservativen gilt sie als direkte Bedrohung der Freiheit, im übelsten Fall führt sie in den Gulag.
Diese Lesart hat sich seit 1989 in Grundzügen weitgehend durchgesetzt, auch im rot-grünen Milieu. Die Sozialdemokratie unter Gerhard Schröder und Tony Blair hat die Gleichheit auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt. Die Dritte-Weg-Sozialdemokraten wollten sie allenfalls noch als Schrumpfform, als Chancengleichheit, gelten lassen. Dass der globalisierte, beschleunigte Kapitalismus in den letzten 20 Jahren die Nationalstaaten, die klassischen Agenturen von Umverteilung und sozialer Gleichheit, entmachtet hat, macht die Sache noch trüber. Kurzum: Politisch, gesellschaftlich, als Begriff ist soziale Gleichheit hoffnungslos von gestern. Eine Parole, die für trotzkistische Splittergruppen taugt, populär wie Masern.
Die Sozialdemokraten haben die Regierungsbänke längst geräumt. Die Neue Mitte hat sich als zugiger, haltloser Ort erwiesen. Jetzt ist man, auch intellektuell, auf der Suche nach einer neuen Behausung. Das erklärt den Erfolg einer spröden empirischen Studie, die die Epidemiologin Kate Pickett und der Wirtschaftshistoriker Richard Wilkinson 2009 verfasst haben. In Großbritannien hat sie Furore gemacht.
Gleichheit hält frisch
"The Spirit Level" zeigt anhand umfangreicher Datenvergleiche, dass krasse Unterschiede zwischen Arm und Reich destruktiv sind. Je ungleicher Gesellschaften verfasst sind, desto kaputter sind sie in ihren Innenräumen. Wo hingegen eine gewisse soziale Gleichheit herrscht, werden die Leute älter, die Kindersterblichkeit ist geringer, und die Bürger vertrauen sich gegenseitig eher. Sie recyceln mehr Müll, es gibt weniger Mörder, Drogenabhängige, Übergewichtige und psychisch Kranke.
Die Studie fußt auf Datenmaterial aus zwei Dutzend Industriestaaten. Und in fast allen Kategorien schneiden die skandinavischen, sozialstaatlich geprägten Länder und Japan blendend ab, Deutschland liegt im Mittelfeld, erwartbar finster sieht es in den angelsächsischen Staaten aus. Erstaunlich ist, dass Wilkinson und Pickett zeigen können, dass Gleichheit mitunter wichtiger als das Bruttosozialprodukt ist.
Die Lebenserwartung in Bangladesch liegt entschieden höher als in Harlem - obwohl der Lebensstandard in Harlem viel höher ist als in Bangladesch. Kurzum: "The Spirit Level" versammelt eine erdrückende Beweislast, die zeigt, dass Tocqueville und seine Nachfolger falschliegen. Mehr Gleichheit tötet nicht die Freiheit - im Gegenteil: Sie erhöht die Chancen, ein freies, von Unglück eher unbeschwertes Leben zu führen. Wer mehr soziale Gleichheit anstrebt, will nicht nach Nordkorea, sondern nach Norwegen.
In Deutschland ist das Buch im Frühjahr unter dem knalligen, aber irreführenden Titel "Gleichheit macht glücklich" erschienen. Denn Glück ist, wie die Autoren im Vorwort versichern, für empirische Sozialforscher ein allzu wolkiger Begriff. Außerdem liegt die Assoziation mit staatlicher Zwangsbeglückung ungünstig nahe. Das Buch erschien im Tolkemitt Verlag bei Zweitausendeins, was dem Erfolg auch nur bedingt förderlich war. So gab es im Frühjahr einige wohlwollende Kritiken. Aber dass dieses Buch eine Art Handreichung für eine renovierte linke, rot-rot-grüne Politik sein kann, hat sich noch nicht herumgesprochen.
Am Montagmittag lächelt Kate Pickett in Berlin-Mitte freundlich ins Auditorium. Ein SPD-naher Thinktank hat sie eingeladen, zusammen mit dem SPD-Mann Hubertus Heil und dem grünen Fraktionschef aus Hessen, Tarek Al-Wazir. Beide loben zwar Picketts analytische Schärfe, doch mehr als das übliche "Rot-Grün hat Fehler gemacht, aber nächstes Mal wird alles besser" bekommt man nicht zu hören.
Gefragt, was denn nun zu tun sei, antwortet Pickett klug und ausweichend: Ob höhere Steuern für Reiche nötig sind, wisse sie nicht. Dafür sei die Politik zuständig. Als Wissenschaftlerin könne sie nur feststellen, dass mehr Gleichheit sich für die Gesellschaft auszahlt, egal ob sie durch Lohnpolitik oder Steuern zustande kommt. Im Übrigen nutze mehr Gleichheit auch den Reichen. Gleichere Gesellschaften seien produktiver, weil sich die Talente der Bürger besser entfalten würden. Dann rattert sie eine Statistik herunter.
Gleichheit nutzt allen
Der Tonfall ist postideologisch, ganz ohne Klassenkampf-Rhetorik. Es werden keine Gegner beschimpft, auch die übliche linke Intonation: "Es war schon immer furchtbar, aber jetzt steht die Katastrophe vor der Tür", fehlt. Pickett nimmt den Konservativen freundlich die Waffen aus der Hand, zum Beispiel das Argument, dass mehr Gleichheit ja vielleicht wünschenswert wäre, aber leider leistungsfeindlich und ineffektiv wirkt.
Die Botschaft lautet: Mehr Gleichheit nutzt allen. Sie zu fördern ist vernünftig, das hat die Forschung herausgefunden. Ist Gleichheit also die neue Erzählung der Linken, die ins Zentrum der Gesellschaft strahlen wird und deren schlichter, kühler Ratio sich niemand wird entziehen können? Eine Erzählung, die die politische Linke von ihrer Verlegenheit erlöst, wie sie ihre Forderungen, vom Mindestlohn über die Beschränkung von Managergehältern bis zur Bürgerversicherung, mit der Aura eines Projekts umgibt?
Es gibt Gründe, skeptisch zu sein. Denn in der hedonistischen Popkultur ist für Gleichheit kaum Platz. Was dort zählt, sind individueller Stil und Selbstverwirklichung - Freiheiten halt. So laboriert die Linke, ganz anders, als Tocqueville es dachte, noch immer an dem Gegensatz von Freiheit und Gleichheit. Freiheit im Konsumkapitalismus meint Genuss, Lust ohne Verbindlichkeit, Individualität. Es ist ein Versprechen, das auch herbste Enttäuschungen übersteht und gegen das kein Kraut gewachsen zu sein scheint. Dieser Freiheitsbegriff ist der wirksamste Verbündete des Neoliberalismus.
Gleichheit macht effizient
Wer genauer hinschaut, sieht, wie hohl vieles an dieser Freiheit ist. Die individualisierte Massengesellschaft bringt sogar Merkwürdigkeiten wie Ikea-Käufer hervor, die in der Illusion leben, ihren eigenen Stil zu kreieren, der zufällig auch der von Tausenden anderen ist. Aber so ganz verzichten möchten die wenigsten auf diese Freiheiten. Man weiß, dass die Glücksversprechen der Konsumfreiheit trügerisch sind, braucht sie aber trotzdem. Beim Versprechen der Gleichheit ist es umgekehrt: Wir trauen ihr, haben aber nicht das Gefühl, sie zu brauchen. Die Finanztransaktionsteuer, die Tobin-Tax, macht nicht glücklich, Ikea irgendwie doch.
Den Ausblick, den Wilkinson und Pickett bieten, hat wenig von einer neuen, leuchtenden Erzählung. Sie zählen nüchtern auf, wo alternative, kooperative Unternehmensformen Erfolg haben. Es ist eine lange Liste, von Kraftwerken in kommunaler Hand in den USA über Kreditvereine, von erfolgreichen Non-Profit-Organisationen bis zu der spanischen Mondragon-Genossenschaft, die im Jahr 17 Milliarden Euro Umsatz macht und effektiver als die Konkurrenz arbeitet, weil sie auf Gleichheit setzt. All das ist kleinteilig, konkret, sympathisch. Der Stoff, aus dem ein neues Wir gewoben wird, ist es eher nicht.
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