: Neugier und Hoffnung
Die meisten im Nahen Osten setzen auf den EU-Beitritt der Türkei. Sie hoffen, dass sich damit die Region stabilisiert
AUS KAIRO KARIM EL-GAWHARY
Europa bis zum Euphrat? Wenn am 17. Dezember die EU-Staats- und Regierungschefs auf einem Gipfel in Brüssel entscheiden, wann die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beginnen sollen, sind Europas Argumente zum Für und Wider einer türkischen Integration hinlänglich bekannt.
Wie aber steht die arabische und islamische Welt zum türkischen Einzug nach Europa? Wird dies als ein Schritt wahrgenommen, mit dem die Türkei der Region und seinen eigenen islamischen Wurzeln den Rücken zuwendet, oder wird das Land an der Grenze Europas zu Asien dann als eine Brücke gesehen, über die sich eine dringend notwendige europäisch-nahöstliche Annährung entwickeln lässt?
Es gibt konservative Islamisten, die wie die saudische Tageszeitung al-Schark al-Aussat schreibt, „die Aufnahme der Türkei als ein Kreuzzugsprojekt verschreien, mit dem die islamische Identität der Türkei verändert werden soll“. Dahinter steckt die Angst, dass die Türkei der Region auf immer Wiedersehen sagt. Doch bei den meisten Arabern weckt der türkische EU-Beitritt eher Neugierde und Hoffnungen.
Etwa bei der Frage, was die arabische Welt erwartet, wenn die Grenze Europas eines Tages tatsächlich bis zum Euphrat, also bis zu Konfliktregionen wie der Irak oder Israel-Palästina reicht. Eine nahe europäische Grenze kann sich eigentlich nur positiv auf die angespannte Lage auswirken, glaubt Hassan Nafaa, der an der Kairoer Universität Politikwissenschaft lehrt. „Die Stabilisierung dieser Region wäre dann geradezu automatisch ein europäisches Primat.“ Er hofft dabei auf „eine aktivere europäische Rolle“, um die Konflikte dieser Krisenregion zu lösen. Vorteil: Anstatt sich wie heute auf wirtschaftliche Kooperation zu verlegen, wären es dann politische und sicherheitspolitische Erwägungen, die die europäische Politik gegenüber dieser Region leiten würden.
Sein ägyptischer Politologenkollege Ahmad Abdallah gibt sich dagegen keinen Illusionen hin: „Solange die Region so instabil bleibt, wird sich Europa hüten, die Türkei in ihre Reihen aufzunehmen.“ Die Europäer konnten schon ihre eigenen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien nur mit Hilfe der Amerikaner lösen. Sollten sie auch noch in diese Region mehr hineingezogen werden, würde ihre Abhängigkeit von den militärischen Fähigkeiten Washingtons noch größer werden, meint er.
Aber es ist weniger die politische, als die kulturelle Dimension, von der sich vor allem viele liberale arabische Denker erwarten, dass der EU-Beitritt der Türkei ein mittleres Erdbeben mit gutem Ausgang auslöst, durch das festgefahrene Denkweisen zerstört werden könnten. „Das ist nichts weniger als eine Nagelprobe, ob sich beide Seiten, Europa und die islamische Welt, in ihrem Anderssein akzeptieren können“, erklärt Abdallah. Die Türken, sagt er, „reißen einfach die Grenzen nieder, indem sie sagen, wir als Muslime sind der Westen“.
Auch für Nafaa stellt der Türkeibeitritt eines der großen zivilisatorischen Projekte er Zukunft dar. „Wenn Europa es schafft, ein muslimisches Land in seinen Reihen zu integrieren, ohne ihm all seine kulturellen Werte aufzuzwingen, wird sich die Sicht Europas auf die islamische Welt genauso verändern, wie das dortige schlechte Image des Westens“, glaubt er. In einem EU-Beitritt eines islamischen Landes sieht er den Beginn eines „ernsthaften Dialoges der Kulturen“.
Ein Europa aber, das sich als „christlicher Club“ verstünde, stößt auf arabischer Seite auf vollkommenes Unverständnis. Abgesehen von jenen Fundamentalisten, die die Welt in „Dar-al-Islam“, das islamische Haus des Friedens, und in „Dar-al-Harb“, das Haus des Krieges und der Kreuzzügler, unterteilen. Alle anderen wundern sich über das „multireligiöse und säkulare Europa“, das sich angesichts der türkischen Beitrittverhandlungen plötzlich wieder das Prädikat „christlich“ verleiht. In den meisten EU-Ländern gingen nicht mehr als ein Drittel der Bevölkerung in die Kirche, schreibt die überregionale arabische Tageszeitung al-Schark al-Aussat in einem Artikel, der mit dem Titel „Angst vor der Türkei oder Angst vor dem Islam?“ überschrieben ist. Die Religion sei nicht die wichtigste Norm in Europa, das einen Supermarkt der Religionen, politischen Ideologien und der freien individuellen Wahl darstelle, heißt es dort weiter.
Gedanken macht sich die arabische Seite auch über die Frage, welche Rückwirkungen ein türkischer Beitritt nicht nur auf die türkische, sondern möglicherweise auf die eigenen Gesellschaften hätte. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob ein Beitritt langfristig die islamische Identität der Türkei oder den Säkularismus, also die dortige offizielle Trennung zwischen Religion und Staat stärken würde. Für möglich gehalten wird beides. In diesem Sinne wäre der Türkeibeitritt ein Risikounternehmen mit offenem Ausgang. Die Türkei müsse sich nach Jahrzehnten des Säkularismus ihres Staatsgründers Atatürks wieder mit ihrer eigenen islamischen Geschichte aussöhnen, denn eine Türkei, die weder eine westliche noch eine östliche Identität habe, würde bei einem EU-Beitritt am Ende zu einem westlichen Staat dritter Klasse verkommen, heißt es in einem Kommentar in der arabischen Tageszeitung al-Hajat, die dann auch gleich ein europäisches Dilemma aufzeigt: „Die Türken sind gerade dabei, sich wieder ihrer islamischen Identität zuzuwenden. Der wichtigste Wächter über die türkische Trennung von Religion und Staat bleibt das türkische Militär, also gerade jene Institution, die aufgrund des europäischen Drucks nach mehr Demokratie in der Türkei geschwächt wird“, schreibt die Zeitung.
Der ägyptische Politologe Nafaa stimmt dem im Prinzip zu. Natürlich würde eine echte Integration der Türkei in Europa die Demokratie in der Türkei stärken und damit die militärischen Institutionen schwächen. „Eine Demokratisierung der Türkei würde damit möglicherweise dort dann auch eine islamische Wiederbelebung zur Folge haben.“ Aber, fügt er hinzu, diese Rückkehr zur alten Identität hätte nicht automatisch eine extreme Version des Islam zur Folge. Im Gegenteil, argumentiert er: „Die Türkei wird ihre islamisch-kulturelle Identität hochhalten und dabei gleichzeitig zu beweisen suchen, dass eine säkulare muslimische Gesellschaft durchaus in Europa eingegliedert werden kann.“ Gerade das ist für Nafaa ein Argument, warum die Türkei im ureigenen europäischen Interesse in die Reihen Europas aufgenommen werden sollte. Eine Türkei, die außerhalb Europas demokratisiert wird, hätte zur Folge, dass die Islamisten gestärkt werden. Der gleiche Prozess im europäischen Rahmen würde einen anderen Ausgang verheißen. Der einstige Dekan der Politikwissenschaften an der Kairoer Universität hofft, dass der Türkeibeitritt eine Art Anti-Bin-Laden-Effekt zur Folge hat. Ein erfolgreiches Integrationsprojekt würde einen moderaten gegenüber einem extremistischen Islam stärken. Und das nicht nur in der Türkei, argumentiert er. Nafaas Fazit: Mit einer europäischen Türkei wäre er endlich angetreten, „der Gegenbeweis zum vielbeschriebenen ,Krieg der Kulturen‘, der doch eigentlich nur ein ,Krieg der Ignoranz‘ auf beiden Seiten ist“.