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Neues Stereolab-AlbumAnorganische Chemie

Julian Weber
Kommentar von Julian Weber

Härte als schöpferische Kraft: Die neue Platte von Sterolab lässt Brüche deutlich hören. Erst im Albumformat entwickelt sich ihr schmutziger Klang-Wäschehaufen zu wahrer Größe.

Leicht verstrahlt: Stereolab. Bild: promo

Neben My Bloody Valentine, Pram und einigen versprengten schottischen Krach-Trotzkisten sind Stereolab die einzige Popband aus Großbritannien, die sich in ihren massenkompatiblen Songs immer wieder gegen die eigene Artschool-Tradition wenden. Man sieht das schon an der Lavalampen-Coverästhetik ihres neuen Albums "Chemical Chords" und man hört das auch ihren ähnlich plundrigen Tontrauben an.

Erst im Albumformat wächst ihr schmutziger Wäschehaufen aus gleißendem Licht und Melodien, Loops und krausen Gedanken zu wahrer Größe. Eine Buddyband sind sie aber nicht. Zwischen den Bandmitgliedern - allen voran die französische Sängerin Laetizia Sadier und der Gitarrist Tim Gane - ist viel Platz. Und wo einst die tödlich verunglückte Stereolab-Gitarristin Mary Hansen wirkte, klafft heute eine Leerstelle.

Mehrmals in ihrer Karriere gerieten Stereolab in die Krise, vielleicht gehört ihre Bewältigung einfach zum Bandprogramm. Auch auf "Chemical Chords" hört man die Brüche und Fallstricke deutlich, da ist nichts reibungslos oder klingt abgedroschen professionell, denn das Songmaterial ist - zum Glück - nicht zu Ende formuliert. "Fractal Dream of a Thing" oder "Pop Molecule" heißen zwei der insgesamt 16 anorganischen Skizzen, die ihren Druck irgendwo zwischen Hookline, Groove und Gemütslage entwickeln und im Mix atombombensicher gemacht werden. In sich wirken die Songs so zwar geschlossen, aber sie gehorchen keiner übergeordneten Dramaturgie, außer der Logik des Überflusses. Rockmusik war immer verschwendungssüchtig. Und diese Sucht erzeugen Stereolab mit einfachen Stilmitteln, einem Schlagzeugwirbel oder einer Trompetenfanfare; im Detail zeigt sich das Vergnügen, aber auch der nackte Wahnsinn.

Das Stereolab-Klangideal liegt hörbar in den Sechzigern und Siebzigern. Aber natürlich ist an "Chemical Chords" nichts retro - die Ereignisse sind nicht wegen der Geschichte da, sondern umgekehrt. Stereolab haben sich in ihrer Musik jedoch ungläubiges Staunen bewahrt. Wie Kinder, die sie in der Popmoderne waren, bauen sie sich auch die Songs. Offensichtlich können sie den Zukunftsglauben jener Ära heute nicht eins zu eins nachahmen. Dieses Problem ist als Arbeitshypothese von "Chemical Chords" beibehalten. Andererseits klingt die folgerichtige Sentimentalität nicht bedeutungsschwer, ihre eigene Vergänglichkeit holt die Band an die glitzernde Oberfläche. Stereolab mögen privilegiert sein, prominent sind sie nicht. Und sie haben auch keinen Status von älteren Rockanimals geerbt. Ganz bestimmt nicht wiederholen Stereolab deren Fehler. Es genügt zu wissen, dass Fehler begangen wurden: Man könnte sich Stereolab nicht als gürtelschwingende Headliner auf einem großen Festival vorstellen, aber sie haben schon Songs über den Zustand des Gürtelschwingens ("Wow and Flutter") komponiert. Stile und Gedanken erarbeiten sich Stereolab langsam wie eine Lesegruppe, bei Bedarf verwerfen sie das Erlernte schnell.

Wenn der englische Sozialist George Bernard Shaw einst für den totalen Gesang im Werk von Richard "the Meister" Wagner schwärmte, so halten es Stereolab mit den Ambientschlaufen, die sich aus der Musik der Krautrockband Neu! ergeben haben.

Als gute Internationalisten weisen ihre Sehnsüchte aber in alle Richtungen: Vom LaborrattenrocknRoll der Velvets hin zum LSD-getränkten Barockpop des kalifornischen Labels A&M. Von der Cognacgläser-Klangwelt französischer Chansonsängerinnen zum taumelnden Dronesound des Technolabels "Oslo". Irgendwo zwischen Brakhage und bricolage, zwischen easy und uneasy wird Härte in den Händen von Stereolab zu schöpferischer Kraft. JULIAN WEBER

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Julian Weber
Kulturredakteur
Julian Weber, geboren 1967 in Schweinfurt/Bayern, hat Amerikanische Kulturgeschichte, Amerikanische Literaturwissenschaft und Soziologie in München studiert und arbeitet nach Stationen in Zürich und Hamburg seit 2009 als Musikredakteur im Kulturressort der taz

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