Neues Jamie T.-Album: Abheben aus dem Häusermeer
Der 23-jährige englische Musiker Jamie T veröffentlicht sein neues Album "Kings&Queens". Seine Popsongs sind brillant und machen die Selbstzufriedenheit von Britpop vergessen.
Ein Klassiker: Man sitzt sich 30 Minuten nichts ahnend in der Lobby eines Hotels gegenüber. Begutachtet die Fingernägel, denkt an ein kühles Glas bayerisches Bier, hin und wieder taxiert man sich: Der Typ gegenüber im staubfarbenen Trenchcoat, schwarze Sonnenbrille, College-Schuhe, warum ist sein Teint so blass wie ein gesalzener Kartoffelchip? Man kommt zu dem Schluss, dass das unmöglich der sein kann, als der sich wenig später - natürlich - der 23-jährige englische Popstar Jamie T entpuppt.
Sofort fallen einem die Songtexte von Jamie T wieder ein. Sein ausgeprägtes Gefühl für Zweizeiler-Reime und sein Reservoir an schlau beobachteten, absurden Begebenheiten. In dem Song "Spiders Web" auf seinem neuen, zweiten Album "Kings&Queens" imprägniert der blasse Teint sogar gegen die Bevormundung eines aufdringlichen Musikkritikers. "Direction" reimt sich auf "Complexion". In einem anderen Zweizeiler lässt Jamie T Jugendliche noch mit den Preisschildern an ihren Klamotten durch die Gegend rennen und Mamas Ray-Ban-Brille wie einen Orden tragen. Gedanken wie der über den Fluglärm, den jemand gar nicht hört, weil er direkt in der Einflugschneise wohnt, wo liest er sie auf? "Belesen bin ich nicht", sagt Jamie T bescheiden. "Ich würde mich als unruhigen Geist bezeichnen, ich schnappe überall etwas auf und beschleunige die Begebenheiten mit meinen eigenen Worten. Mein Gefühl für Timing speist sich aus anderen Songtexten."
So wie auf dem Coverfoto seines vor zwei Jahren erschienenen Debütalbums "Panic Prevention", das ihn in seinem Zimmer inmitten von Musikinstrumenten, Popmemorabilia und Fototapeten zeigte, leben viele englische Jugendliche. Sie werden auch von dem Coverfoto seines neuen Albums "Kings&Queens" direkt angesprochen. Es zeigt Jamie T umringt von Mietskasernen. Dank der Rundum-Perspektive einer Fischaugenkamera hebt Jamie T wie ein Raumschiff aus dem Häusermeer ab. Jamie Treays stammt aus den council estates, einer Hochhaussiedlung im Südwesten Londons. Er hatte das Glück, eine gute Schule besuchen zu können. Damit hat er es besser als das Personal seiner Songs, den ordinary people. Vielleicht sind es auch Filmfantasien über ordinary people, die Jamie T einfließen lässt. Und doch triggern seine Texte etwas an, was nicht unter Sozialromantik fällt, sondern realistisch vom Alltagsmief, von der Enge und der Entfremdung in der Großstadt berichtet. Eintöniger, auswegloser wurde all das in den alten BBC-Fernsehserien aus den Siebzigern auch nicht geschildert.
Der Titel "Panic Prevention" spielte auf die Panikattacken an, die Jamie T seit seiner Kindheit befallen, wendet sich aber auch gegen die moralische Entrüstung, die der englischen Jugend für ihre Lebensstile und Moden entgegengebracht wird. Jamie T stärkt auf seinem neuen Album "Kings&Queens" Gruppenidentität. Seine upliftenden, mit eingängigen Hooklines ausgestattete Popsongs sind ein Plädoyer für jugendliche Selbstermächtigung. Jeder kann zum König, zur Königin des Pop gekrönt werden, so will er glauben machen. "Ich wehre mich dagegen, dass meine Musik politisch sein soll. Was mich aber fesselt, ist Popkultur. In ihrem Kern geht es immer um Jugendbewegungen. War immer so und wird immer so bleiben."
"Panic Prevention" war vor zwei Jahren noch der Überraschungserfolg eines 21-jährigen Nobody. Natürlich orchestriert von der Plattenfirma, die anhand von Jamie T ihre Internet-Promotion auf Socialnetworkseiten wie Facebook und Twitter optimierte: Ständig wurde über einen Youngster berichtet, dessen punkige, im Cockneydialekt gesungene Popsongs mit der Produktionsweise des HipHop mit Beats und Samples unterfüttert sind. "Weil ich von meiner Plattenfirma promotet werde, ist mir die Aushöhlung meiner Privatsphäre noch lange nicht gleichgültig. Andererseits will ich auch nicht leben wie 1975."
Strummers Duktus
Wie 1976 schon eher. Was die Empathiefähigkeit angeht, wird Jamie T oft mit Joe Strummer von The Clash verglichen, dessen Agitprop-Texte immer als politisches Statement des englischen Punk interpretiert werden. Joe Strummer wird als energiegeladen, aggressiv geschildert, auch als mitfühlend. "Alles, was ich bisher gemacht habe, ist eine Verbeugung vor den Musikern, die ich mag", erzählt Jamie T. "Ich sitze in meinem Zimmer, höre ihre Musik und mache mir dazu Notizen." Er benutzt sogar Strummers Duktus. "Run Boyo", heißt es an einer Stelle, seines neuen Albums, abgeleitet aus "Wrong em Boyo", einem Clash-Song aus dem Album "London Calling". Ähnlich wie bei The Clash schwingt bei Jamie T auch immer eine Portion Reggae mit. Man hört das in seinen liebevoll gedrechselten Melodien. Was bei The Clash die Junior-Murvin-Coverversion war, heißt auf "Kings&Queens" "Chacka Demus". Keine Coverversion, aber ein Breakbeat mit Ragga-Schlagseite.
Während der Diplomatensohn Joe Strummer sich mit plakativen Parolen auf die Seite der Schwachen stellte und den Song "White Riot" schrieb, als er beim Notting Hill Carnival 1977 Zeuge von Polizeigewalt gegen schwarze Einwanderer wurde, beschreibt Jamie T einige Nummern kleiner, ein kleinkriminelles, auch hoffnungsloses Milieu, in dem niemand vor dem Absturz ins Bodenlose sicher sein kann. "Hier in Berlin lassen die Menschen achtlos ihre Taschen und Jacken liegen. In London wäre das undenkbar, allein der Gedanke an so was würde die Leute zu Gelegenheitsdieben machen."
Noch etwas hat sich seit Joe Strummers Tagen in England verändert. The Clash konnten sich in relativer Abgeschiedenheit zu einer tighten Band entwickeln. Punk benutzte die Skandalisierungsmethoden der Medien und spielte damit. Jamie T steht seit der Veröffentlichung seines Debütalbums im Februar 2007 konstant unter Beobachtung. Von einer 18-monatigen Welttournee kam er ausgebrannt zurück und dachte ans Aufgeben. "Ich musste erst mal das Erreichte bilanzieren und sortieren. Was nicht einfach war, denn es kam mir alles verschwommen vor, wie in einer großen Seifenblase. Na ja, ich mag Musik mehr als alles andere, aber ich war unsicher, ob ich den Hype um meine Person weiter ertragen wollte. Als diese Zweifel wieder verflogen waren, habe ich erneut begonnen, Songs zu schreiben, und dann hat sich das in Wohlgefallen aufgelöst."
Jamie Ts Senkrechtstart war auch eine Reaktion auf Albions obersten Bierbauchbepinsler Mike Skinner. Skinners Projektname "The Streets" spiegelt sich in der Musik von Jamie T wider. Weniger im Sound als in der Psychogeografie: Londoner Straßennamen tauchen mehrfach in den Songs auf. Das Personal aus den Pubs und den Mietskasernen, das von Jamie T aufgezählt wird, es denkt, es fühlt mit der Verfallsgeschichte des Empire im Rücken. "London ist nur der Ort, an dem ich wohne. Ich finde es aussichtslos, für meine Heimatstadt so etwas wie Lokalpatriotismus zu empfinden. Die Lebenshaltungskosten sind grotesk hoch, und die Alltagsgeschwindigkeit saugt mich im Nu aus. Es gab Phasen, da war mir London wichtig, im Moment habe ich die Stadt allerdings ziemlich über."
Auch deshalb wäre das gefühlsduselige Label "Britpop" im Zusammenhang mit der Musik von Jamie T unangebracht. Er glorifiziert die Pop-Vergangenheit nicht, er hat einen sicheren Instinkt, was ihre Kontexte betrifft. "Punkrock und HipHop haben verschiedene Tempi, aber sie sind beide aus Langeweile und Frust entstanden. Wenn du frustriert bist, ist die Wut wichtiger als der Rhythmus."
In dem Song "British Intelligence" auf seinem neuen Album "Kings&Queens" kontrastiert Jamie T die Angst eines Jungen, dessen illegal in London lebende Freundin vor der Abschiebung bedroht ist, mit den Fahndungsmethoden der britischen Polizei. Die Musik dazu ist eine zu allem entschlossene Punky-Reggae-Party, beruhend auf der rund 40-jährigen, nicht immer reibungslosen Erfahrung multikultureller britischer Popkultur.
Von den Erlösen aus seinem Debütalbum kaufte sich Jamie T übrigens ein Häuschen, der Traum aller Engländer. Im Keller steht ein eigenes Studio. "Um Geld zu sparen".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Frauen in der ukrainischen Armee
„An der Front sind wir alle gleich“
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag