Neues Album von Iggy Pop: Kaputtologie vom Proto-Wutbürger
Leguan mit sehr viel Kunstsinn: Iggy Pop veröffentlicht mit „Every Loser“ ein elegant schnurrendes Album. Die Backingband besteht aus schweren Jungs.
„Got a dick and 2 balls, that's more than you all“, so beginnt „Frenzy“, der Auftaktsong des neuen Iggy Pop-Albums „Every Loser“. Das kurzweilige Potenzgefuchtel zu Anfang, das in seiner Gänze die Potenziale von Rockmusik auslotet, muss nicht übersetzt werden. Dafür gehört es bereits jetzt in die Galerie der klassischen Albumeröffnungen von Iggy Pop.
In der Sammlung des 75-jährigen US-Punk-Ersttäters steht Iggys im hohen Bogen in den Straßenstaub geworfenes „Well, alright“ vom Debüt der Stooges. Auf jenem musikgewordenen Fehdehandschuh definierte das Proto-Punk-Quartett 1969 die böse funkelnde Ästhetik des Schmutzrock und machte schnell klar, es ist rein gar nichts in Ordnung und will es auch nicht mehr werden.
1980 stellte Iggy Pop sein grandios verunfalltes „Soldier“ unter das Motto „My momma told me/If I was goody/That she would buy me/A rubber dolly“. Iggy Pop schlägt sich durch im amorphen Bereich zwischen Aggression und Komik. Das ist längst nicht alles, und das ist auch auf „Every Loser“ der Fall. Atmosphärisch dockt die Musik an eine Großtat wie dem 1979 erschienenen „New Values“ an, wobei das Pendel auf „Every Loser“ in Richtung eines Humors ausschlägt, der Ernst macht.
Kurz zur Statistik
Rockmusik schert sich nicht um Rechnungsführung und Statistik, aber etwas davon muss sein. „Every Loser“ ist Iggy Pops 19. Studioalbum und umfasst in gerade einmal 37 Minuten elf Songs. Der kürzeste dauert eine, der komplexeste sechs Minuten. Iggys Begleitung auf „Every Loser“ ist zumeist ein Trio aus dem Ozzy-Osbourne-Produzenten Andrew Watt an den Gitarren, dem Drummer der Red Hot Chili Peppers, Chad Smith, und Duff McKagan von Guns N' Roses. Diese Besetzung lässt erahnen, dass „Every Loser“ anders klingt als sein Vorgänger, der tolle anti-rockistische „Free“ von 2019.
Iggy Pop: „Every Loser“ (Goldtooth/Atlantic/Warner)
„Every Loser“ ist Wutmusik. Niemand allein hat übrigens ein Anrecht auf Wut, von daher geht „Every Loser“ als ein sehr demokratisches Album durch. Ein Song wie „Frenzy“ steht in einer langen Tradition einer in der Rockmusik unverzichtbaren Fertigkeit, der des Fluchens und des Zeterns, und das nicht zum Selbstzweck. Im zweiten Stück und ersten Highlight des Albums ist das Tempo gedrosselt.
Der Anti-Drogen-Song „Strung Out Johnny“ wird von dem Experimental- und Red Hot Chili Peppers-Musiker Josh Klinghoffer an Gitarren, Piano und Keyboards psychedelisch grundiert. Dass die Dealer im Text die Vornamen zweier gewesener US-Präsidenten tragen, kann kein Zufall sein: „Ronny said to Donnie/Sell that boy a spoon.“ Der Wikipedia-Eintrag zur Opioidkrise in den Vereinigten Staaten beziffert die Überdosis-Opfer im Zeitraum zwischen Juli 2021 und Juni 2022 auf mehr als 107.000 Menschen und fügt an: „Der größte Teil von ihnen war von Schmerzmitteln abhängig geworden, die zuvor verschrieben worden waren.“
Trügerisches Rentnerparadies
Den dritten Song „New Atlantis“ beginnt Iggy Pop mit balladesk begleitetem Sprechgesang, bevor das Stück sich zu einer Art Breitwand-Psychedelik inklusive eines prägnanten Gitarrenriffs aufschwingt. Textlich zeichnet „New Atlantis“ das Bild einer trügerischen Idylle. Iggy Pop hat seiner Wahlheimat – dem Rentnerparadies Miami – eine nicht schmeichelnde Liebeserklärung geschrieben; er weiß, dass die pittoreske Hafenstadt dem durch den Klimawandel ansteigenden Meeresspiegel nicht ewig standhalten wird.
Nach der potentiellen Elegie der konkrete Krawall: „Modern Day Ripoff“, ein weiteres Highlight, ist ein höchst energetischer Garagerock-Kracher. Das von Andrew Watt gespielte Piano erinnert an John Cales Hammer-Klavier auf „I Wanna Be Your Dog“, der submissiven Hymne auf dem Stooges-Debüt. „Modern Day Ripoff“ ist auch Paradebeispiel für die Stimmakrobatik des Leguans. Iggy ist der Mann, der nicht dekonstruiert werden muss, so lässt er das R aus dem Titel „Rrrrippp Off“ rollen. Die Ballade „Morning Show“ beschließt die erste Hälfte des Albums.
Dann gibt es einen kleinen Stilbruch, der sich überraschend organisch in das Klangbild von „Every Loser“ einfügt: „The News For Andy“ ist ein jazzig-funkiges Zwischenspiel mit einem Sechszeiler. Mehr davon würde aus dem sehr guten Werk kein schlechteres machen, nur ein anderes: Jazz hat bei Iggy Pop seit jeher einen Stein im Brett.
Und immer wieder: Jazz
In Interviews schwärmt er stets von John Coltrane, das zweite Stooges-Album „Funhouse“ begründete ein Genre wie Punk-Jazz, und Iggy Pop hat den daran wesentlich beteiligten Saxophonisten Steve Mackay auf dessen hörenswertem Album „Sometimes Like This I Talk“ die Stimme geliehen.
„Every Loser“ geht bis in Richtung Hardcore: Im Spottlied „Neo Punk“ klopft Travis Barker von Blink-182 die Drums. Pearl Jam-Gitarrist Stone Gossard ist auf „All The Way Down“ zu hören, einer trotzigen Fortschreibung von „Strung Out Johnny“. In „Comments“ spielt Taylor Hawkins Drums, Perkussion und Piano. Der Foo-Fighters-Musiker ist 2022 den Drogen erlegen. Iggy Pop hat nur schwer, aber schließlich in den Achtzigern doch den Ausstieg aus der Abhängigkeit gefunden. Auf „Every Loser“ erinnert er an Hawkins.
Empfohlener externer Inhalt
Frenzy
Iggy Pop ist ein Gesamtkunstwerk: Als Schauspieler ist er etwa bei Jim Jarmusch aufgetreten. Auf „Every Loser“ hat er ein retardierendes Moment untergebracht. „My Animus Interlude“, das Zwischenspiel, erinnert in Stimm- und Tonfall an die düstere EP „The Dictator“ der Komponistin Catherine Graindorge, für die Iggy Pop gesungen hat.
Lakonischer Schienenstrang
Natürlich ist er auch an bildender Kunst interessiert, auf dem Cover ist die lakonische Zeichnung eines Bahngleises zu sehen. Entworfen hat sie US-Maler Raymond Pettibon, bekannt geworden durch seine Arbeiten für Bands wie Black Flag und das Label SST. Namen, die sich wiederum dem Werk von Iggy Pop verdanken. Die Zeichnung führt den Rockismus der Musik ad absurdum.
Große Kunst ist auch das Finale von „Every Loser“: der Song „The Regency“ mit seinem balladesken Anfang und den plötzlichen, sechsmaligen Wechseln. Das Tolle an Rockmusik war und ist der Moment, wenn man sich einen Text beim Hören schreibt. „Fuck The Regency“ klingt wie „Fuck Your Idiocy“. Das ist beileibe keine Beleidigung aller integren Idioten, sondern der Mittelfinger an das kaputtmachende Ganze, an Kapitalismus und Krieg. Das Luxusleben Iggy Pops, in den Worten der großen wütenden Nina Simone ein „rebel with a cause“, ist dagegen kein Widerspruch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?