piwik no script img

Neuer Roman von Olga GrjasnowaDas ererbte Schweigen mit Fiktionen füllen

Bisher lehnte Olga Grjasnowa Kategorien wie Identität scharf ab. In ihrem aktuellen Roman „Juli, August, September“ scheint sich das Blatt zu wenden.

Olga Grjasnowa löst mit ihren Werken immer wieder Debatten aus Foto: Isabella De Maddalena/opale/laif

Olga Grjasnowas fünfter Roman „Juli, August, September“ beginnt mit Alltagsszenen aus dem Leben einer Mutter namens Lou. Die promovierte Kunsthistorikerin, die ein Buch über Aids in der New Yorker Kunstszene schreibt und deren Biografie Ähnlichkeiten mit der der Autorin erkennen lässt, weiß mit ihrer jüdischen Herkunft nichts anzufangen.

Als ihre kleine Tochter, die nach der verstorbenen Urgroßmutter Rosa benannt ist, die in der Sowjetunion den Holocaust überlebte, bei einer Kindergartenfreundin aus einer Graphic Novel über Anne Frank vorgelesen bekommt, beginnt das Mädchen zu heulen und will nach Hause. Die genervte Lou, der die verstörte kleine Tochter berichtet, es habe sich um ein Buch über Adolf Hitler gehandelt, hat den Band bereits vorher bei der bekannten Familie herumliegen gesehen und sich zusammenreißen müssen, nicht gleich die Augen zu verdrehen.

Anderntags fährt die in Berlin lebende Lou zu einer Buchhandlung und liest das unterkomplexe Bilderbuch, das „nicht einmal eine vage Vorstellung vom Holocaust vermitteln“ kann, noch im Stehen am Bücherregal durch. Sie starrt fassungslos auf die Darstellung Anne Franks: Das weltweit wohl bekannteste Schoah-Opfer sieht aus „wie eine Mischung aus einer Manga-Figur und einer stilisierten Audrey-Hepburn-Postkarte“. „Das KZ kam nur am Rande vor und hätte auch ein Sanatorium sein können.“

Gegen jede Trivialisierung

Wie eine routinierte Literaturkritikerin rekapituliert Lou in dieser Anekdote die Problematik globaler Trivialisierungen des Holocaust in publikumswirksamen Formaten wie John Boynes Roman „Der Junge im gestreiften Pyjama“ (2006, verfilmt 2009). Schlecht gemachte Kinderbücher sind aber nicht Lous einziges Problem.

Olgas Grjasnowas neuer Roman

Olga Grjasnowa: „Juli, August, September“. Hanser Berlin, Berlin 2024. 214 Seiten, 24 Euro

Wir erfahren, dass sich ihr jüdischer Mann, der ambitionierte Pianist Sergej, in sie verliebt habe, obwohl Lou aus Sicht ihrer Schwiegermutter „nicht annähernd gut genug“ für ihn sei. „Vielleicht lag es daran, dass ich wie eine Schickse aussah, aber keine war“, bemerkt Lou dazu lakonisch.

Hier gibt es weitere Wiedererkennungseffekte: Auch Masha, Protagonistin in Grjasnowas Debüt „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ (2012), wird von ihrer Cousine in Israel mitgeteilt, dass sie gar nicht jüdisch aussähe. Andererseits befasst sich Lou intensiver mit ihrer Identität im Land der NS-Täter als Masha, die wie sie ebenfalls aus Baku stammt: „Die Geburtsurkunde meiner Mutter, in der die Nationalität als jüdisch vermerkt war, war jedenfalls in Ordnung.“

Beißender Spott

Gleich am Anfang diskutiert Lou mit ihrem Mann darüber, ob und wie man nun die Tochter ans Judentum heranführen solle, da sie „noch nie eine Synagoge von innen gesehen“ habe. Zur Frage, wer er und Lou eigentlich seien, scherzt Sergej: „Zumindest keine Konvertiten aus SA-Familien.“

Diese Dialoge wirken wie Insider-Witze über aktuelle Debatten um jüdische Identitäten in Deutschland, wie dem Streit um den Status sogenannter Vaterjüdinnen und -juden wie Mirna Funk und Max Czollek oder den Versuch von Nachkommen der NS-Tätergeneration, die schuldbeladene eigene Herkunft durch eine Konversion oder eine sogar nur angemaßte jüdische Identität abzustreifen (man erinnert sich an die Fälle von Benjamin Wilkomirski, Marie Sophie Hingst oder Fabian Wolff).

Dazu gibt Lou über Ihre weitverzweigte Familie an: „Wir alle hatten den Eintrag ‚Jude‘ in unserer Geburtsurkunde oder in unseren Pässen gehabt, aber es gab kaum Traditionen, die übrig geblieben wären. Unser Judentum war eine kulturelle Performance, und selbst die war nicht besonders gut.“

Umstrittene Kategorien

Damit kann man „Juli, August, September“ als Wende im bisherigen Werk Olga Grjasnowas bezeichnen. Deren bisheriges Markenzeichen bestand darin, umstrittene Kategorien wie Identitäten (führen bloß zu Bürgerkriegen und Pogromen), Migrationsliteratur (ein rassistisches und paternalistisches deutsches Label für Au­tor*in­nen mit seltsam klingenden Namen) oder Heimat (ein Albtraum) scharf abzulehnen.

Im neuen Roman liegen die Dinge jedoch komplizierter: Lou reist zwar wie Grjasnowas Debüt-Protagonistin nach Israel, sucht dort aber dezidierter als Masha nach den Brüchen in ihrer Familiengeschichte vor 1945. Lou versucht, einem vermuteten Konflikt zwischen ihrer toten Großmutter und deren in Tel Aviv lebender Schwester Maya auf die Spur zu kommen und konsultiert dafür sogar das Archiv von Yad Vashem.

Grjasnowas Debütroman klang im Blick auf Israel distanzierter und löste eine breite internationale literaturwissenschaftliche Rezeption aus, die in den anglophonen German Studies zu einer Betonung einer „Worldliness“ (Stuart Taberner) der Werke dieser Autorin führte. Demnach galt Grjasnowa als Vermittlerin „welthaltiger“ Themen wie Queerness, dem Othering und Rassismus gegenüber Deutschen, die stereotyp als Muslime gesehen und diskriminiert werden, oder der prekären Migration von Syrien nach Europa (in „Gott ist nicht schüchtern“, 2017).

Kolonisierung des Kaukasus

Mit ihrem historischen Roman „Der verlorene Sohn“ (2020), einem Schmöker, der von der russischen Kolonisierung des islamischen Kaukasus und damit erneut einem „nicht-jüdischen“ Thema handelt, mitsamt einem muslimischen Protagonisten, der sich zwischen russischer Assimilation und, tja, dem Dschihad für das Volk seines Vaters Imam Shamil entscheiden muss, schien dieser schillernde Ruf Grjasnowas endgültig gefestigt.

Doch die Autorin bleibt für Überraschungen gut. Seit vorigem Jahr Professorin für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien, verblüfft Grjasnowa nun also nach dem Trauma des Hamas-Massakers vom 7. Oktober 2023 mit einer Art Sequel zu „Der Russe ist einer, der Birken liebt“, wobei „Juli, August, September“ als eine waghalsige Kombination aus Pauschal­urlaubs-Familienfest-Komödie mit Schauplatz Gran Canaria und einem Traumaroman aus Tel Aviv, Haifa und Jerusalem daherkommt.

Das erste Thema wird verschenkt: All-inclusive-Hotel-Klischees wie mieser Buffet-Fraß, wässrige Drinks und gewisse Massentourismus-Nationen, deren Bürger frühmorgens die Liegen am Pool mit Handtüchern besetzen, sind zum Abwinken.

Spontane Erzählung

Hervorzuheben ist dagegen die Erinnerung der Großmuttergeneration, die sich auf dem kanarischen Hotelbalkon beim Billigwein aus dem Supermarkt mit einer spontanen Erzählung von Lous Mutter zu entfalten beginnt und dazu führt, dass die Protagonistin der gerade 90 gewordenen Großtante Maya nach Israel hinterherfliegt, um sie mit mäßigem Erfolg nach ihrem Verhältnis zu ihrer Großmutter auszufragen.

Rosa und Maya wurden von ihrer offenbar psychotischen Mutter Hannah, die, einem historischen Foto nach zu urteilen, genauso aussah wie Lou, auf der Flucht vor der in der Sowjetunion vorrückenden Wehrmacht als junge Mädchen sich selbst überlassen. Ihr Vater wurde aufgrund eines verspätet zugestellten Einberufungsbescheids der Roten Armee, der ihn wie ein Deserteur aussehen ließ, verhaftet und erschossen.

Dieser Teil des Romans birgt für ein deutschsprachiges Publikum unerhörte Perspektiven. Er erzählt aus Sicht der jüdischen sowjetischen Zivilbevölkerung vom Beginn des NS-Vernichtungskriegs und der überstürzten Flucht der Familie aus dem weißrussischen Ort Gomel, bis die beinahe verhungerten Schwestern Rosa und Maya im aserbaidschanischen Baku bei einem Onkel ein sicheres Refugium finden. Ähnlich wie die vom deutschen Publikum nach 2012 kaum wahrgenommene Pogrom-Passage über den Bergkarabach-Konflikt in Grjasnowas Debüt ist der Teil allerdings nur kurz.

Geschichte mit Lücken

Doch Lous Familiengeschichte muss lückenhaft bleiben. Ihre Großmutter, die diese in ihren Darstellungen zeitlebens manipulierte, ist längst tot und hat kaum Dokumente hinterlassen. Maya, die sich danach selbst ins Zentrum der Überlebensgeschichte zu rücken und ihre Schwester, die konkurrierende Lieblingstochter ihres Vaters, an den Rand zu drängen versuchte, lässt sich kaum noch zum Reden bewegen.

Das ist jene typische Konstellation, die die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch mit ihrem Begriff Postmemory umschrieb: Die dritte Generation nach der Schoah beginnt, das Schweigen der traumatisierten Schoah-Überlebenden aus der eigenen Familie mit Fiktionen zu füllen.

Es sind ausfantasierte Vermutungen, die sich um wenige übriggebliebene Dokumente und Fotografien zu gruppieren beginnen, um den Ursprung des verschwiegenen Familientraumas erzählbar zu machen. Katja Petrowskajas Roman „Vielleicht Esther“ (2014) ist ein früheres, bereits kanonisiertes Beispiel für ein solches selbstreflexives, autobiografisches Post-Holocaust-Erzählen. Es handelt sich um ein Schreiben, das offensiv mit der Notwendigkeit umgeht, das, was passiert sein könnte, zu erfinden und damit das Unerzählbare erzählbar zu machen.

Olga Grjasnowas „Juli, August, September“ reiht sich nun also ein ins Genre einer (autofiktionalen) Postmemory-Literatur. Zugleich, und das ist typisch für Grjasnowa, die auf derartige Einordnungen allergisch reagiert, ironisiert der Roman die Identitätssuche der Protagonistin durch jenen pointierten Sarkasmus, den man auch schon aus ihrem Erstling kennt. Am Ende ist die Protagonistin kaum klüger als zuvor. Alles andere wäre aber auch unpassend: Geschlossene Erzählungen mit einem befriedigenden, klaren Ende gibt es nur in Büchern, die ihre Heldinnen wie eine Audrey Hepburn mit Manga-Augen aussehen lassen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!