Neuer Roman von Jonathan Franzen: Gut sein geht halt nicht
„Die Korrekturen“ des Autors Jonathan Franzen wurde als Rückkehr des Erzählens gefeiert. Sein Roman „Crossroads“ zeigt nun, er treibt es zu weit.
Als Jonathan Franzen 2001 seinen Welterfolg „Die Korrekturen“ veröffentlichte, war das für ihn, aber auch für das Publikum, Ausdruck einer Befreiung. Die „Rückkehr des Erzählens“ hatte gerade ihren triumphalen Siegeszug angetreten, und man wollte sich nicht mehr durch das verkrampfte poetologische Händeringen der modernistischen Hohepriester quälen lassen, durch trockene Experimente und anstrengende Meta-Fiktionen. Franzen schrieb damals einen langen Essay über seine Konversion vom strengen Ästhet, der schwere, kritische Bücher schreiben wollte, zu einem Autor, der sich vor allem den Leser*innen und ihren Bedürfnissen verpflichtet fühlte.
Diese Konversion vollzog sich nicht zufällig parallel zum Aufstieg des sogenannten „Quality TV“, von Serien wie „Sopranos“ oder „The Wire“, die ebenfalls für ihre Freude am Erzählen gelobt wurden: endlich wieder Figuren, die zu Identifikation einluden, endlich wieder eine spannende Handlung. Es wurden begeisterte Vergleiche zum Roman des 19. Jahrhunderts gezogen, als wäre die Moderne eine Art Mittelalter des Erzählens gewesen, das nun endlich überwunden sei.
Franzens neues Buch, „Crossroads“, betreibt in dieser Hinsicht eine Eskalation, die zeigt, dass man es mit der „Rückkehr des Erzählens“ vielleicht etwas zu weit getrieben hat. Während Franzen sich vor zwanzig Jahren mühsam zum Erzählen durchringen musste, kann er jetzt überhaupt nicht mehr aufhören zu erzählen. Das schlägt sich zunächst im Umfang nieder. „Crossroads“ kommt in der deutschen Übersetzung auf über 800 Seiten, und es soll nur der erste Teil einer Trilogie sein, die sich mit dem Leben der Familie Hildebrandt beschäftigt.
Dieser erste Band spielt in den 1970er Jahren in einem Vorort von Chicago. Der Vater der Familie, Russ, ist Pfarrer einer örtlichen Gemeinde. Er leidet unter dem für die Zeit charakteristischen Generationenkonflikt, denn er wurde von dem hippen Gemeindemitarbeiter Rick Ambrose aus der Jugendgruppe „Crossroads“ vertrieben, die dem Roman ihren Titel gibt.
Jonathan Franzen: „Crossroads“. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Rowohlt, Hamburg 2021. 832 Seiten, 28 Euro
Zudem befindet er sich in einer Midlife-Crisis, die vor allem darin zum Ausdruck kommt, dass er seine Frau Marion nicht mehr begehrenswert findet und nach der schönen Witwe Frances Contrell giert. Marion wiederum kämpft mit den Spätfolgen einer Gewalterfahrung in ihrer Jugend, die sie selbst vor Russ geheimgehalten hat. Die Tochter Becky verzehrt sich nach dem örtlichen Mädchenschwarm, der ältere Sohn Clem verzehrt sich nach seiner Freundin Sharon, und der jüngere hochbegabte Sohn Perry verzehrt sich nach Drogen.
Probleme und Problemchen
Franzens Figuren haben die konventionellen Probleme und Problemchen, die Figuren in einem realistischen Roman, der für seine Fabulierlust gelobt werden möchte, ebenso haben. Jede Figur bekommt ein zerstörerisches Hauptbedürfnis, das im Konflikt mit übergeordneten ethischen Bedürfnissen steht. Diese Konflikte erscheinen inzwischen allerdings – nach Jahrzehnten dieser Art des Erzählens und nach hunderten Staffeln „Quality TV“ – ziemlich erschöpft.
Welche bürgerliche Ehe ist nicht von Krisen zerfressen, welche Pubertät nicht qualvoll? Wer denkt nicht manchmal, er könnte mit jemand anderem schlafen als mit der Partner*in? Wer fragt sich nicht, ob er ein paar Kilo abnehmen sollte? Die Probleme sind natürlich nicht verschwunden, im Gegenteil, aber auf der Ebene des literarischen Erzählens sind sie vielleicht langsam auserzählt. Man könnte sagen, dass das Erbe Tolstois auf eine Art an sein Ende gekommen ist. Jede unglückliche Familie ist inzwischen auf dieselbe Weise unglücklich, zumindest in der realistischen Prosa.
Das hält Franzen aber nicht davon ab, gerade in diesem Roman alle Ansprüche an erzählerische Ökonomie zu verabschieden. Nichts wird angedeutet, alles wird ausbuchstabiert. Das gilt vor allem für den grundsätzlichen Konflikt des Gutseinwollens, das sich immer wieder – eine Spezialität von Franzen – selbst als egoistisch erweist. Echter Altruismus ist unmöglich, weil jede gute Tat bereits dem Bedürfnis entspringt, besser zu sein als die eigenen Mitmenschen.
Der Unterschied zu Franzens früheren Romanen ist, dass die Figuren das in „Crossroads“ selbst ahnen und dementsprechend ständig darüber nachdenken oder sich darüber unterhalten. Das klingt dann so: „Aber an Marion hatte er auszusetzen, dass sie dick und freudlos war, ihn langweilte, ihm den Schneid nahm. Er wusste nicht, wie er das sagen sollte, ohne wie ein Mistkerl zu klingen.“
Ein oft naiver Ton
Diese ständigen Schleifen der Selbstbezichtigung führen dazu, dass viele Dinge doppelt und dreifach erzählt werden. Erst im Vollzug, dann im Nachdenken darüber und dann noch einmal in einem dramatischen Gespräch. Insbesondere die Dialoge wirken ausgewalzt und nervtötend. Ein seltsamer Mangel an narrativer Sparsamkeit erzeugt einen oft naiven Ton: „Ich weiß, dass du wütend bist. Ich weiß, dass ich was Schlimmes getan habe. Aber wir lieben Tanner beide –“ „Ach, wirklich. Du liebst ihn.“ „Ich – glaube schon.“ „Na, ist das nicht herzallerliebst.“
Ein Streit etwa zwischen Clem und seinem Vater über die Entscheidung des Sohnes, als Soldat nach Vietnam zu gehen, zieht sich über acht Seiten. Die Dinge, die sich beide an den Kopf werfen, wurden allerdings vorher bereits in verschiedenen Reflexionspassagen breitgetreten. Der Roman ist voll von solchen unproduktiven Wiederholungen. Kurz nach dem quälenden Gespräch zwischen Vater und Sohn folgt ein noch längeres Gespräch zwischen Russ und seinem Konkurrenten Rick Ambrose, und mit sinkendem Herzen wird einem klar, dass bald ein weiteres Gespräch zwischen Becky und ihrer Konkurrentin Laura Dombrowski stattfinden wird.
Dieser unbändige Drang, alles zu besprechen, und das meistens im Modus des gegenseitigen Anschreiens, soll wohl auch eine satirische Analogie zum überspannten Empfindsamkeitsdiskurs zeitgenössischer Millennials eröffnen. Dieses Vorhaben misslingt allerdings, da der Roman das Ärgernis reproduziert, über das er sich lustig machen will.
Seltsam gestelzt
Auch auf der stilistischen Ebene scheint sich Franzen von den Fesseln der ästhetischen Ökonomie befreit zu haben. Die Prosa wirkt unkontrolliert und seltsam gestelzt. Ein Beispiel: „Bis zum gestrigen Abend hatte sie Knutschgelage zur Kategorie nicht obligatorischer Tätigkeiten gezählt.“ Das überschreitet, wie diese repräsentative Passage zeigt, oft die Grenze zum reinen Kitsch: „Als er sich schließlich von ihr losriss, mit dem Versprechen, sie am nächsten Tag anzurufen, war der Gedanke an Vietnam von der Süße ihres Mundes, dem einladenden Duft ihrer Haut, der kühnen kleinen Zunge, die sich zwischen seine Lippen geschoben hatte, ja der großen Überraschung von alldem verbannt worden.“
Die deutsche Übersetzung hätte hier gegensteuern müssen, verstärkt allerdings eher den seltsam technokratischen Satzbau und die altmodisch wirkende Umständlichkeit. Dazu kommt die ärgerliche Konvention, in die Übersetzungen amerikanischer Romane eine erfunden klingende Jugendsprache einfließen zu lassen. Da ist dann die Rede von „seinen Alten“, der „Schnecke irgendeines Sportlers“, der „Königin der Schnösis“, es wird angebaggert, jemandem wird etwas verklickert, im Bus wird gepennt, Menschen sagen Dinge wie: „Tut mir leid, Herzblatt“ oder „Mannomann“.
Besonders frappierend wirkt dieser entfesselte Stil in der Darstellung von Sexualität. Die Menschen in diesem Roman sind auf eine unangenehm aufrichtige Art von Sex besessen. Da der Roman in einem religiösen Umfeld in den 1970er Jahren spielt, ist das durch die Handlung auch teilweise begründet. Allerdings entschuldigt das nicht die Fremdscham, die bei Sätzen wie diesem ausgelöst wird: „Clem verweilte, um seine Zunge so weit wie möglich in sie hineinzuschieben, zu schmecken, was sein Penis nicht schmecken konnte, und richtete sich dann auf, um ihr in die Augen zu schauen.“
„Crossroads“ entwickelt durch die Anhäufung melodramatischer Konflikte streckenweise durchaus den erzählerischen Sog, den man sich von dieser Art von Roman erhofft. Allerdings steht das Buch wie kaum ein anderes in letzter Zeit auch stellvertretend für einen Überdruss an Konventionen des realistischen Erzählens, dessen Rückkehr langsam vielleicht einmal abgeschlossen sein sollte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“