Neuer Herausgeber beim "Merkur": Die Bohrtiefe der Texte
Lange prägten Bohrer und Scheel den "Merkur". Wohin steuert nun Deutschlands wichtigste Intellektuellenzeitschrift unter Christian Demand? Ein Redaktionsbesuch.
Seitenblick. Die kleine Merkurfigur, gleich rechts hinter der Tür zum Berliner Zimmer, ist noch da. Überhaupt ist vieles noch da; die Redaktionsräume von Deutschlands wichtigster Intellektuellenzeitschrift sehen im Grunde noch aus wie unter dem inzwischen legendären Herausgeberteam Kurt Scheel und Karl Heinz Bohrer.
Christian Demand, der neue Herausgeber, steht, während man in den Raum kommt, allerdings gerade auf der Leiter, um in den Bücherregalen die Bestände zusammenzuschieben. Daneben soll Platz für Neues entstehen. Wohlgemerkt: daneben! Nicht anstelle des Alten.
Eine Ewigkeit, 30 Jahre lang, prägten Bohrer und Scheel den Merkur. Nun lenkt also Christian Demand, 51, die Zeitschrift, ausgestattet "erst einmal", wie er sagt, mit einem Siebenjahresvertrag. Als eine seiner ersten Maßnahmen hat er Ekkehard Knörer, einen taz-Lesern seit Langem vertrauten Autor, als Redakteur angestellt.
Auch in den Redaktionsräumen findet sich das Prinzip der Regale wieder: verdichten, neben dem Vorgefundenen seinen Platz finden. Die Idee, die Gründerzeiträume in Berlin-Charlottenburg zugunsten modern-funktionalen Büroraums aufzugeben, hat man schnell wieder fallen gelassen. Allerdings wollen sich Demand und Knörer das große mittlere Büro teilen. So wird im vorderen kleineren Zimmer Platz gewonnen für eine Besucherecke. Im hinteren, dritten Raum sitzt wie eh und je die Assistentin Ina Andrae.
Lauter Quereinstiege
Öffnen will man sich ausdrücklich, institutionell wie inhaltlich. "Wenn jemand einen fantastischen Popartikel hat, kommt er ins Blatt", sagt Christian Demand im Gespräch irgendwann. "Das kann auch gern in dem Artikel stehen", ergänzt Ekkehard Knörer. Wobei sich beide wiederum darin einig sind, dass schon der Merkur unter Bohrer und Scheel vielfältiger war als sein Markenimage – "konservativ" ist für Demand nie die richtige Kategorie gewesen, um den Merkur zu beschreiben. "Er war auch konservativ. Aber auch liberal. Und in manchem auch dezidiert antikonservativ."
Nun will man durch beharrliche Arbeit dafür sorgen, dass sich diese Vielfältigkeit irgendwann im Image wiederfindet. Eine neue Kaffeemaschine für die Besucherecke wurde Bereitschaft signalisierend schon mal angeschafft.
Christian Demands bisherige Berufslaufbahn ist durch Quereinstiege gekennzeichnet. Er hat Popplatten aufgenommen, er war auf der Münchner Journalistenschule, er hat als Rundfunkjournalist gearbeitet. Auf Dauer befriedigt hat ihn das alles nicht. Dann hat er sich durch zwei Bücher, die den Bereich der Kunstkritik aufmischten, akademische Meriten erworben.
Es gibt viele Beobachter, die sich Merkur-Herausgeber anders vorstellen. Etwa wie verdiente Gesamtintellektuelle. Oder wie akademische Graurücken. Christian Demand dagegen ist jemand, der sich nun im weiteren intellektuellen Feld noch beweisen muss – und will. Für den Merkur heißt das: Generationswechsel, Möglichkeit zur radikalen Neuausrichtung, Pipapo. Wie inszeniert man – ohne dabei PR-doof zu werden und in unterkomplexe Thesenklopperei zu verfallen – so einen Neuanfang?
Christian Demand hat sich für die größtmögliche Zurückhaltung entschieden und für den langen Atem, auch in der Erscheinungsform des Hefts. Die Januarausgabe des Merkurs unterscheidet sich äußerlich in nichts von der Ausgabe davor. Text, Text, Text, wie gehabt. Kein neues Layout, kein neues Format, keine Fotos, kein neues Deckblatt.
"Es gibt programmatisch keinen programmatischen Relaunch", sagt Christian Demand. "Dafür war ich viel zu erotisiert, wenn ich mich durch die Historie der Hefte wühlte." Und auch für Ekkehard Knörer strahlt schon das Deckblatt, auf dem im Wesentlichen die Autorennamen des Hefts sowie die Titel ihrer Essays stehen, ein bewahrenswertes sachliches Selbstbewusstsein aus.
Ziel: Auflage halten
Vom Verlag Klett-Cotta, in dem der Merkur, getragen von einer Stiftung, erscheint, hat es auch keine Vorgabe gegeben, dass die Leserschaft mindestens verdoppelt werden müsste. Die Ziele sind: die Auflage von 5.000 Exemplaren halten und den intellektuellen Einfluss der Zeitschrift in den Diskursen dieser Republik sichern. Und das wollen Demand und Knörer – und das macht nun die ganze Fallhöhe ihres Einsatzes aus – weiterhin allein durch die Qualität der Texte gewährleisten. Alles andere wäre ihnen zu unmerkurisch.
Und was wäre dann merkurisch? Anhand von Themen beantworten Demand und Knörer diese Frage nicht. Beide verfolgen glaubhaft keine E-und-U-Unterscheidung. Neben Popthemen sollen auch Medienthemen oder Comicanalysen in den Merkur hinein. Von den Sujets her soll nichts ausgeschlossen werden. Entscheidend ist für beide vielmehr die Reflexionshöhe – Demand sagt auch einmal "Bohrtiefe" – des jeweiligen Textes.
Ekkehard Knörer beschreibt seine Wunschvorstellung dabei als "exoterisches Schreiben für Spezialisten": Die Texte müssten auf einem inhaltlichen Komplexitätsniveau wie für eine akademische Fachzeitschrift geschrieben sein, aber sprachlich doch so gestaltet, dass sie alle interessierten Laien faszinieren können. Der Merkur muss für ihn immer wieder "eine Zwischenposition finden, die Feuilleton und Akademie verbindet".
Und Christian Demand hat für die Januarausgabe einen Rückblick auf die Entstehungsgeschichte des Merkurs geschrieben – "Ein Blick zurück nach vorn" betitelt –, in dem er seine Ansprüche an sich selbst als Herausgeber deutlich durchblicken lässt. Zustimmende Sätze über den in dieser Zeitschrift "erstaunlich oft eingelösten Anspruch, dass die Texte ihrem jeweiligen Gegenstand artistisch wie auch intellektuell auf höchstem Niveau begegneten", finden sich darin.
Und eine "publizistische Haltung" wird hochgehalten, "der die Entschiedenheit des Urteils nicht aus der Sicherheit unbefragter Wertprämissen oder aus dem Zwang zu leitartikeltauglicher Zuspitzung erwächst, sondern aus einer präzisen Fragestellung, umfassender Sachkenntnis und nicht zuletzt aus dem Willen, den Widerspruch gegen die eigene Position ernsthaft mitzureflektieren".
Zu wenig Urteilskraft
Sachkenntnis, Stilsicherheit, Reflektiertheit also – darunter soll es der Merkur auch in der Ära Demand nicht machen. Im Gespräch kann sich der neue Herausgeber schön in Rage reden, wenn es gegen "rituelle Pseudodiskurse" in der Kunstkritik geht, gegen "Kulturhuberei, die Kultur per se gut findet und dem Einzelwerk dabei gar nicht gerecht zu werden sucht", und gegen Kritiker, "die dem Publikum zu wenig Urteilskraft zutrauen und es volkspädagogisch am Arm nehmen". Gegen alles diese von ihm leidenschaftlich abgelehnten Haltungen hat Demand schon in seinem Buch "Die Beschämung der Philister" angeschrieben.
Was Christian Demand mit seinem Rückblick vorführt, ist jedenfalls schon mal keine Demutsgeste, sondern eher die selbstbewusste Aneignung einer Tradition. In seinem Buch "Wie kommt die Ordnung in die Kunst?" findet sich der Satz: "Vergangenheit haben wir, Geschichte dagegen müssen wir uns geben." Der Rückblick ist das deutliche Signal, dass nun seine Generation am Zuge ist, aus der Vergangenheit des Merkurs eine Geschichte zu formen.
Nach neuen Autoren, die diese Geschichte weiter mit Leben erfüllen sollen, suchen Demand und Knörer hinter den Kulissen gerade verstärkt. Das Januarheft belegt, dass sie teilweise bereits fündig wurden. Christoph Schönberger schreibt darin überzeugend gegen vorherrschende Klischeeängste vor einer deutschen Hegemonie in Europa an: Ein Hegemon darf ja gerade die anderen Staaten nicht dominieren, sondern muss sehr stark auf ihre Interessen achten. Und Nora Markard referiert differenziert den Stand des europäischen Asylrechts.
Aber nicht nur von ihrem Gespür für neue Autoren wird der Erfolg der Ära Demand/Knörer abhängen. Es existieren ja auch andere Geschichten über den Merkur, die diese Zeitschrift spätestens seit der Wiedervereinigung und erst recht seit dem 11. September dann doch als konservatives Kampfblatt begreifen. Der Erfolg des neuen Herausgebers hängt auch davon ob, ob er sich gegen diese Sicht mit seiner Geschichte vom Merkur durchsetzen kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“