Neue Zahlen zu NS-Lagern: Sensation oder nicht?

42.500 Lager hat es im Nationalsozialismus gegeben, sagen US-Forscher. Andere Experten finden es falsch, KZs und Zwangsarbeiterlager zusammenzufassen.

Besucherzentrum der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau. Bild: ap

BERLIN taz | In der NS-Zeit existierten weit mehr Lager als bisher angenommen. Jedenfalls ist dies der Befund eines Forscherteams des Holocaust Memorial Museums in Washington. Demnach gab es in Deutschland und den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten 42.500 Lager – bisher sei man von etwa 7.000 Lagern ausgegangen.

Geoffrey Megargee, der Leiter des Projektes, bezeichnete gegenüber der Onlineausgabe der Zeit die Zahl als „Sensation“. Ziel des Projektes ist es, bis 2025 eine vollständige Enzyklopädie aller Lager zu erstellen und jeden „Ort zu dokumentieren, an dem jemand verfolgt, zur Arbeit gezwungen, gefoltert, inhaftiert oder ermordet wurde“, sagte Megargee. Die 42.500 Lager haben indes nicht zeitgleich existiert. Es handle sich vielmehr um die Gesamtzahl aller Lager in der Zeit des Nationalsozialismus.

Laut Definition des Projektes werden zudem die unterschiedlichsten Lager erfasst - das erklärt die Höhe der Zahl. Zu den 42.500 Lagern zählen somit Konzentrations- und Vernichtungslager sowie deren Außenlager, sowie Ghettos, Zwangsbordelle und Kriegsgefangenenlager, sogenannte „Judenhäuser“ – Wohnhäuser, in denen jüdische Deutsche zwangsweise lebten – und die zahlreichen Lager für Zwangsarbeiter.

Im Sommer 1944 waren in Deutschland 2,3 Millionen Kriegsgefangene und 5, 4 Millionen Zivilisten aus dem Ausland zur Zwangsarbeit eingesetzt. Die meisten waren in Lagern untergebracht. Der Historiker Ulrich Herbert schätzt die Zahl der Kriegsgefangenenlager auf etwa 6.000, die der Lager für ausländische Zivilarbeiter auf 25.000 bis 30.000.

Bordelle und Straflager

Allerdings unterschieden sich die Lebensbedingungen in diesen Lagern außerordentlich - die Bandbreite reicht hier von Wohnlagern für dänische oder niederländische Facharbeiter bis zu KZ-ähnlichen Arbeitserziehungslagern. Allein für Berlin haben die US-Forscher 3.000 Lager identifiziert. Die meisten der 42.500 Lager seien laut Angaben aus Washington bereits bekannt gewesen. Das Forscherteam hat dabei auch Einrichtungen wie Wehrmachtsbordelle, Germanisierungslager oder Straflager für Wehrmachtssoldaten erfasst.

Deutsche NS-Historiker nehmen die Zahlen aus Washington eher distanziert zur Kenntnis. Der Berliner NS-Spezialist Wolfgang Benz sagte dem Tagesspiegel das Material aus Washington sei „nicht enzyklopädiefähig“. „Der jeweils eigene Mikrokosmos der Lager ist in den allermeisten Fällen nicht erforscht.“ Benz gilt als exzellenter Kenner des KZ-Lagersystems. Seriöse Forschung zum nationalsozialistischen Lagersystem müsse „nicht einsammeln, sondern graben“.

Der Freiburger Historiker Ulrich Herbert hält, wie auch sein Berliner Kollege Michael Wildt, die Zahl an sich für „realistisch“, sie entspreche auch den seit längerem bekannten Größenordnungen. Er ist aber skeptisch, welche Aussagekraft sie hat und kritisiert, dass das das Holocaust Memorial Museum diese zehntausende von Lagern unter dem Begriff des „Holocaust“ zusammenfasst.

„Ein französischer Zivilarbeiter musste in Deutschland arbeiten, er war den Bombenangriffen ausgesetzt, lebte oft unbequem und wurde womöglich schikaniert; anschließend kehrte er nach Hause zurück“, sagte Herbert. „Die Juden hingegen wurden im Holocaust ermordet. Der Unterschied zwischen Leben und Tod ist keine akademische Differenzierung.“

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