: Neue Vierländerin und Windbüdel
■ Neuengamme: Nach monatelangem Kälteschlaf duften Maiglöckchen selbst im Winter
Bei Gärtnermeister Hermann Voß (59) und seinem Sohn Andreas (33) wird Mutter Natur ausgetrickst. Mitten im Winter duftet es in den Gewächshäusern in Neuengamme vor Hamburgs Toren nach Tausenden von Maiglöckchen. Sie haben zum Teil einen monatelangen Kälteschlaf hinter sich, bei minus fünf Grad im Kühlhaus, und werden bei Bedarf in vierwöchiger Wartezeit zum Blühen erweckt.
Dabei ist die Methode keineswegs neu. Schon vor 100 Jahren wurde sie per Zufall entdeckt, als einem Hamburger Gärtner ein Mißgeschick passierte. Er hatte zusammen mit Äpfeln und Birnen auch einige Kisten Maiglöckchen ins Kühlhaus befördert. Als er mitten im Winter die eingefrorenen Maiglöckchenkeime entdeckte und ins Treibhaus stellte, standen sie bald in voller Blüte: Die „Blume ohne Zeit zu jeder Zeit“ war geboren.
Das zartduftende Liliengewächs fühlt sich an den wenigen Standorten der Winsener Elbmarsch und in den Vierlanden im Süden Hamburgs am wohlsten. Hier haben aber nur noch wenige Haupterwerbsbetriebe ihre Anbauflächen. Der Nebenerwerb ist so gut wie zum Erliegen gekommen: Von zweihundert Mitgliedern vor zehn Jahren ist der Verband der Maiblumenanbauer Niedersachsens auf 40 geschrumpft, berichtet Vorsitzender Fritz Schrader-Seefeldt aus Stove (Kreis Harburg).
Wenn die Herbststürme über die Elbdeiche brausen, ist Hochsaison bei den Anbauern. Viele haben auch deshalb die Zucht aufgegeben, weil Arbeitskräfte für die schlecht entlohnte und schwere körperliche Arbeit kaum noch zu bekommen sind. Das Geschäft der Maiblumenanbauer ist nämlich nicht das phantasievolle Binden von Brautsträußen oder Trauergestecken, sondern das „Puhlen“.
Jahrzehntelang haben die Frauen des Dorfes von Oktober bis Ende November Blühkeime von Pflanzenkeimen getrennt. Keime mit dicken Knospen wandern ins Kühlhaus, die „Windbüdel“ werden wieder eingepflanzt, um kommende Maiglöckchengenerationen zu bilden. Knospen und Windbüdel, also die dünneren Pflanzkeime, sind vom geübten Auge sofort zu unterscheiden. „Die Keime mit den Blütenknospen sehen aus, als wenn sie im neunten Monat schwanger wären“, sagt Schrader-Seefeldt. Nur bei dreißig bis fünfzig Prozent der Pflanzen sitzt auch wirklich eine Blume drin – in manchen Jahren noch weniger. Dann geht die Anbauer-Bilanz in die roten Zahlen. Die „Schwangeren“ werden bündelweise eingefroren und so zum allergrößten Teil nach Frankreich exportiert, wo sie als Nationalblume hoch im Kurs stehen.
Stolz sind die Anbauer von der Elbe auf ihre neue Züchtung, die „Neue Vierländerin“, die statt zwölf jetzt zwanzig Glöckchen auf einer Länge von 35 Zentimetern betörend duften läßt. Zwanzig Jahre dauerte es von der Aussaat bis zum Bestandsaufbau.
Die „Orchidee des Nordens“, die schon zu Zarenzeiten in moosgepolsterten Körben an den Hof nach St. Petersburg verschifft wurde, ist aber nicht nur eine Schönheit, sie wird auch als Heilpflanze genutzt: unter anderem gegen Herzkrankheiten. Karin Toben, dpa
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