Neue Serie: Bibliotheksbesuch: Folianten, Fäuste, Finanzdesaster
Schätze aus zehn Jahrhunderten muss die Lübecker Stadtbibliothek hüten - hat aber nicht mal Geld zum Erhalt ihrer Zweigstellen.
„Lesen und lesen lassen“, die neue Serie der taz.nord, beschreibt Bibliothekszustände in Norddeutschland. Büchereien demokratisieren das Wissen – aber gibt ihnen die Wissensgesellschaft dafür auch die notwendigen Mittel? Strengen sie sich selbst genug an, um aktuelle Kommunikationsräume zu bleiben? Oder ist nicht sowieso schon alles im Netz?! Eine Antwort-Suche vor Ort in acht Stationen.
LÜBECK taz | Hier möchte man Bibliotheksdirektor sein. Das denkt, wer Bernd Hatscher durch herrliche Hallen voll ehrwürdiger Folianten folgt. Lesender Bürger langt natürlich auch – zumal man dem 47-Jährigen spätestens dann nicht mehr den Job neidet, wenn er dessen prekäre Rahmenbedingungen schildert. Also über Mangelverwaltung spricht und die Schließung von Zweigstellen. Wir sind in Lübeck. Und da funktioniert anscheinend alles nach dem bekannten Buddenbrook-Muster: alter Reichtum, steter Verfall.
Zunächst aber geht es durch eine Flucht von Sälen, neogotische Gewölbe und barocke Räume, deren eichene Regal-Architekturen unendlich viele Folianten fassen. Konkreter gesagt sind es 20.000. Bände aus dem 11. bis zum 18. Jahrhundert, deren dicke lederne Rücken eine fast faustische Aura verströmen. 130.000 weitere antiquarische Werke lagern außerhalb. Diese bemerkenswerte Bibliothek entstand 1619 durch die Vereinigung von vier alten Kirchenbibliotheken, die es zusammen auf damals 1.100 Bände brachten. Damit war Lübeck – im norddeutschen Rahmen – so etwas wie Alexandria für die antike Welt. Eine Bücher-Metropole, zu der die Gelehrten pilgerten.
Wem „Alexandria“ zu weit hergeholt scheint, kann auch an Augsburg denken. Lübeck war ein ähnlich bedeutender Druckstandort, was die historischen Bestände auf heute 150.000 Exemplare anschwellen ließ. Ein Großteil davon ist Alleinbesitz. Anders gesagt: Geht er hier verloren, gibt es nirgendwo Ersatz.
Hatscher steht jetzt zwischen zwei uralten Globen, die die Stimmung allgegenwärtiger Gelehrsamkeit mit einer Anmutung antiker Abenteuerlust anreichern. Muss man die Unikate nicht alle scannen, in die digitale Ewigkeit retten? Hatscher zeigt ein müdes Lächeln. 180 Exemplare will man irgendwann elektronisch konservieren – sobald es dafür Stiftungsgeld gibt. Doch die Hauptaufgabe heißt: die Masse der Bücher in ihrer bloßen physischen Existenz retten.
Schon in den hehren historischen Hallen herrschen keineswegs konservatorische Standardbedingungen. Und der weitaus größte Teil der Bände lagert in einer baufälligen Kaserne an der Trave – mit Fenstern, die alles andere als dicht sind. Gibt es eine Klimaanlage zur Regulierung der Luftfeuchte? Wieder lächelt Hatscher. Vorhanden sei eine alte, nicht regulierbare Dampfheizung: „Die macht entweder bullige Hitze – oder gar nichts.“ Konservatorisch erforderlich sind konstante 13 Grad.
Sicher: In Lübeck ist es nicht so schlimm wie in Stralsund, wo die ähnlich alte Gymnasialbibliothek erst verschimmelte und dann verscherbelt wurde. Wobei der Schimmel erst beim Verscherbeln bemerkt wurde. Nach dem internationalen Protest wird in nächster Zeit kein norddeutscher Kommunalpolitiker wagen, Buchverkäufe vorzuschlagen. Was aber tun die Lübecker gegen den Verfall?
„So eine Schimmelschicht würden wir schon noch mitkriegen“, sagt Hatscher. Mit sonstigem Treiben irgendwelcher Mikroben sähe es allerdings anders aus. Die wissenschaftliche Bearbeitung des wertvollen Bestands ist längst eingestellt, für die formale Verwaltung gibt es noch eine Teilzeit-Kraft – die auch anderes zu tun hat. Regelmäßige Zustandskontrollen sind unter diesen Umständen illusionär.
Noch illusionärer ist die Errichtung eines neuen Magazin-Gebäudes, gemeinsam mit dem Archiv und den städtischen Museen – es würde neun Millionen Euro kosten. Aber: „Wir haben die Historie zu tragen“, formuliert Hatscher tapfer. Manchmal drückt er sich weniger vornehm aus: „Im Prinzip könnten wir die Wälzer sonst auch in die Trave werfen!“
Es muss frustrierend sein, Schätze zu hüten, die man nicht nutzen kann. Doch das Trauerspiel des siechenden historischen Bestands ist nur ein Teil der Lübecker Bibliotheksmisere. Die andere spielt ganz im Hier und Jetzt: Sieben von elf Stadtteilbibliotheken wurden in den vergangenen Jahren geschlossen – eine finanzielle Verzweiflungstat, die das Stadtsäckel nicht wirklich entlastet. „Um maximal 250.000 Euro jährlich“, präzisiert Hatscher. Im Haupthaus sind die Öffnungszeiten drastisch eingeschränkt, die Wiederbesetzung frei werdender Stellen ist ausgeschlossen. So schrumpfte die Belegschaft seit 2002 um ein Drittel. Das bedeutet zum Beispiel: weniger Kooperationen mit Schulen, weniger mobile Bücherkisten, weniger eigene Veranstaltungen. Hatscher, wieder vornehm: „Wir arbeiten mit pragmatischem Minimalismus.“
Seit 25 Jahren ist er Bibliothekar, von Frankfurt/Main kam er über Gütersloh nach Lübeck. Seine Erfahrung: „Je nördlicher, desto schwieriger die Arbeitsverhältnisse.“ Doch selten treffen historischer Reichtum und aktuelle Bedürftigkeit, ehrwürdige Altbestände und öffentliche Armut so krass aufeinander wie in Lübeck. Ein paar Schritte von der Bibliothek entfernt liegt die „Schiffergesellschaft“: eine Lokalität, deren Reichtum an Schnitzereien und von der Balkendecke baumelnder maritimer Modelle jeden Besucher umhaut. Hier verkehrten die Fernkaufleute, die Lübeck jahrhundertelang zur „Königin der Hanse“ machten.
Heute hat die Stadt 1,3 Milliarden Euro Schulden. Genau einen davon erbringt der Verkauf des defizitären Flughafens – ohne Investor würde hier bald kein Flugzeug mehr landen. Und die kommunalen Bibliotheken? „Sind alle im freien Fall“, sagt Hatscher sachlich.
Noch leistet die Lübecker Stadtbibliothek Bemerkenswertes: 1.000 Menschen kommen jeden Tag in ihre diversen Alt- und Neubauten, statistisch geht alle vier Sekunden ein Titel durch die Ausleihe. Bundesweit einzigartig ist ihre Ausrichtung am angelsächsischen Modell der Public Library, die für Wissenschaftler ebenso zuständig ist wie für SchülerInnen. „Wir sind eine bemerkenswert komische Bibliothek“, kommentiert Hatscher. Und fügt dann hinzu: „Täglich erleben wir Dankbarkeit für unsere Angebote.“
Täglich erlebt er allerdings auch Armut. Regelmäßig müssten für Mahngebühren Ratenzahlungen vereinbart werden. 2,30 Euro in Raten? „Wenn ich es nicht selbst sähe, würde ich es auch nicht glauben“, sagt Hatscher. Immerhin stottern sich pro Jahr 330.000 Mahn-Euros zusammen – ein Zehntel des Gesamtetats. Wie bei anderen prekär finanzierten Bibliotheken macht das de facto den Löwenanteil der zur Verfügung stehenden Anschaffungsmittel aus.
Trotz allem ist Bernd Hatscher niemand, der mit der Faust auf den Tisch schlägt. Das tut er höchstens, wenn vor ihm ein Foliant liegt – und er den realistischen Kern der Redewendung vom Buchaufschlagen demonstriert. Dann saust seine Faust so schwungvoll nach unten, dass man sich um den antiquarischen Band ein weiteres Mal sorgt – immerhin der erste gedruckte Weltatlas, 1457. Doch dessen Deckel springt tatsächlich auf, zwei Spangen rutschen runter. „Das Pergament war meist so wellig, dass man es zwischen die hölzernen Buchdeckel pressen musste“, erklärt Hatscher – dem die Vorführung sichtlich Vergnügen bereitet. Sie taugt zur Wissensvermittlung – ebenso wie zum Frustabbau. Und ohne den kann man in Lübeck schon lange nicht mehr Bibliothekar sein.
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