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Neue Junker und alte Vorurteile

Ein Überfall zu Silvester und die Hintergründe. Von Gewohnheiten, Faustrecht und Eigentum. Über Rückkehrer und Daheimgebliebene in der Altmark

aus Bertingen THOMAS GERLACH

Horst-Dieter Selent will sich eine Waffe kaufen. Demnächst. Eine Pistole wäre gut. Dass er nicht so hilflos dasteht, wenn er wieder angegriffen wird, wie zu Silvester von den Dorfjugendlichen. Eine Pistole könnte ihm helfen, wenn sie das „Wessi-Schwein“ wieder mal vertreiben wollen. Eine Waffe – das ist die Sprache, die sie hier verstehen.

Eigentlich ist es Zufall, dass es den Psychologen Horst-Dieter Selent aus dem Hannoverschen hierher nach Bertingen an den Rand der Altmark verschlagen hat. Die Schwiegereltern besaßen einen Hof, Selents Frau ist hier geboren. Als die SED Ernst machte mit der „sozialistischen Umgestaltung“ und die Bauern in die Genossenschaft zwang, verließ die Familie 1957 den Hof und floh in den Westen. Seit vier Jahren sind sie wieder hier, mit Schwiegersohn Horst-Dieter Selent. Der eröffnete in Magdeburg eine Praxis, brachte Islandponys mit und begann zu züchten. Seit zwei Jahren stehen auch Rinder auf der Koppel zwischen dem Bertinger See und der Elbe, 80 Hektar Weideland. Horst-Dieter Selent hat es gekauft, Pflöcke in die Erde geschlagen und eingezäunt, damit die Wiese nicht befahren wird. Nur die Angler kommen nicht mehr an den See, jedenfalls nicht so wie früher mit dem Auto. Es gibt viele Angler hier. Sehr viele. Seitdem werden vom Wasserwagen die Reifen zerstochen, die Ventile herausgedreht, ganze Zaunanlagen geklaut. Oder der Koppeldraht zerschnitten wie im November, als ein Dutzend Stuten und Fohlen ausrissen. Horst-Dieter Selent ruft regelmäßig die Polizei, erstattet Anzeige: wegen Körperverletzung, Bedrohung, Diebstahl, Nötigung, Sachbeschädigung, zwölf bis September. Seitdem sind neue Anzeigen hinzugekommen, die letzte Silvester.

„Das äußert sich bei mir somatisch.“ Horst-Dieter Selent spricht mit leiser Stimme, die Lesebrille sitzt auf der Nasenspitze, er fährt sich mit der Hand durchs Haar, schaut mit gerunzelter Stirn in das Zimmer. Der Psychologe ist im Dienst, Selent sitzt in der Sofaecke und therapiert sich selbst. „Magen, Darm, Kreislauf“, zählt er müde auf. Die Diagnose ist klar, die Anamnese weniger. Wer hat angefangen? Waren Sie zu nachgiebig? Zu hart? „Ich hab’ den Leuten gesagt, dass sie die Autos vorne parken und zu Fuß zum See gehen können. Ist das arrogant? Ist das Gutsherrenmanier?“ Selent liegt nahezu auf dem Sofa, richtet sich auf, blickt über die Brille, schüttelt den Kopf.

Herr Selent negiere die in 40 Jahren gewachsenen Verhältnisse der damaligen DDR, poche nur auf sein Recht und bemühe sich nicht um Akzeptanz, bedauerte der Vizepräsident des Landesanglerverbandes in der Lokalzeitung. Solche Leserbriefe hält Selent schon längst von seiner Frau fern, wegen dieser „Verhältnisse“ hatten ihre Eltern das Land verlassen. Siegrid Selent hat sich dazugesetzt. „Wir haben hier sehr viel investiert, das können wir doch nicht einfach aufgeben!“ Ihr Mann beginnt: „Hier im Haus über 100.000 Mark, 24.000 für die Ziegelei, über 40.000 für das Gebäude nebenan. 12.000 für ein paar Hektar vorm Dorf.“ Dieter Selent ist noch längst nicht zu Ende, nennt immer neue Summen, fügt Hektar zu Hektar, mit der Hand deutet er die Lagen an, dort hinten, hier vorn, unten an der Elbe. Selent wirkt erschöpft, fast unbeteiligt, doch die Zahlen kennt er, insgesamt so an die eine Million Mark. Nein, reich sind sie nicht, seine Frau ist Vertriebsleiterin, er hat die Praxis, beide haben Träume: von der Pferdezucht, dem eigenen Reiterhof und dem Fachwerkhaus von 1779, dem Altenteil, das sie so gern restaurieren würden, und ein Café hinein. Ökoträume, Jugendträume, als sie in Niedersachsen die Grünen mitgründeten. Reich sind sie nicht, wohlhabend schon. Vom Himmel gefallen ist es nicht, das Geld. In Niedersachsen fiele das weniger auf, in Bertingen schon, bei den Summen und Flächen wird manchem hier schwindelig. Schon macht ein altes Wort die Runde: Junker!

„Manchmal glauben wir ja, dass wir was ganz falsch gemacht haben, wenn so viele gegen uns sind.“ Siegrid Selent ist nicht frei von Zweifeln, nicht mehr. Was hätten sie tun sollen? Haben sie nicht sehr viel Geld für die Ziegelei hingelegt, die doch nur eine Ruine ist? Haben sie nicht nebenan für das Wirtschaftsgebäude über 40.000 Mark an die Gemeinde gezahlt, viel zu viel für dieses Gemäuer? Und der Teich? „Dort können die Leute natürlich angeln, aber sie könnten doch vorher wenigstens fragen?“ Hilflosigkeit bei Siegrid Selent, Empörung auch. Am Teich stehe kein Schild, sagen Angler und angeln, ohne zu fragen. Jetzt sortieren die Selents: Die Guten dürfen angeln, die Bösen nicht. Ja, auch am Teich habe es schon Auseinandersetzungen gegeben. Selents sind nun meist mit dem Rottweiler unterwegs. Jetzt hetzen sie schon Hunde auf Angler, erzählt man im Dorf. Jede Bewegung ist falsch: Sind sie hart, sind sie Junker – sind sie weich, nimmt keiner sie ernst.

„Die achten hier nicht das Land.“ Siegrid Selent blickt die Verständnislosigkeit aus den Augen. Was bedeutet hier ein Acker? Land gab’s zur DDR-Zeit genug. Wer hat nach Wegen und Zäunen gefragt? Gewohnheitsrecht ist schnelles Recht. Was bedeuteten Paragrafen und Gesetze? Nichts, solange es die Obrigkeit nicht sah. Gab es Schilder? Und wenn, hat sich keiner gestoßen. Es sei denn, die Russen hatten sie geschrieben. Die besaßen Maschinengewehre.

Den „in 40 Jahren gewachsenen Verhältnissen“ stellt Horst-Dieter Selent sein Leben entgegen. Werkzeugmacherlehre, 68er-Zeit und Ökobewegung. Da ging es um Emanzipation und Recht. Der 48-Jährige weiß es einzuklagen, Recht ist auch für Schwächere da. Als sich Selent mit linker Psychologie beschäftigte, mähte in Bertingen die LPG das Gras. Dass es einmal wieder Einzelbauern geben würde, glaubte keiner. Selents Schwiegereltern schnürten Pakete für den Osten. Dass sie jemals wieder zurückkehren würden, ahnten sie nicht. Gerhard und Helene Westram reden nicht viel. In der Stube sitzen sie, und Horst-Dieter Selent scheint froh, dass die beiden nicht alles mitbekommen. Sie haben ihre Erinnerungen, und die sind nicht gut: an einen Bauern, der bei der Bodenreform 1946 vertrieben wurde, weil er 104 Hektar besaß. Viel zu viel für die neuen Genossen – ein „Junker“. Und wie jene Familie so aus dem Dorf fuhr, auf dem Wagen, nein, das war nicht schön. Und es war noch weniger schön, als sich einige die kleine Kutsche nehmen wollten, die hinterdrein schaukelte. Einfach so. Das vergisst man nicht. Elf Jahre später fuhren Westrams.

„38 Jahre waren wir drüben“, ruft der Alte. „Es war eine schöne Zeit.“ Nun sitzen sie in der Stube und sind doch im Exil, sie fühlen sich als Bertinger und sind unter Fremden, haben hier Verwandtschaft und streiten sich um alte Rechte. Die einen haben von dort Pakete geschickt, die anderen hier den Hof erhalten, ein schlechtes Gewissen hatten wohl beide. Das Dorf mit den 212 Einwohnern ist zu klein für den deutschen Schnittmusterbogen, der seit Kriegsende seine Kurven zieht. Und viel zu klein, dass die Linien sich nicht kreuzen.

Wenn die alten Westrams auf den Hof schauen, grüßen vom Nachbarn Hammer, Zirkel und Ährenkranz. So protestieren Bertinger gegen Horst-Dieter Selent. Seitdem er hier ist, dürfen sie mit ihren Autos nicht mehr über den Hof fahren zu den Garagen, so wie früher. Die Fahne der Arbeiter- und Bauernmacht – nur die Lautsprecher fehlen: Psychoterror mit Tradition. So wird es gewesen sein, als Westrams in den Westen flohen. Der Alte geht nochmal raus zu den Pferden. „Die Fahne? Ach was, die stört mich nicht!“ Gerhard Westram greift den Eimer, stampft zur Stalltür und dreht sich heftig um: „Ich hab die Schnauze voll von Bertingen!“

„Ich distanziere mich von jeglicher Form von Gewalt.“ Jens Kronfeld sitzt auf dem Bürgermeisterstuhl und hält Druckreifes parat: „Es ist ein menschliches Problem.“ Herr Selent wolle sich einfach nicht integrieren. Ein Dorf sei nun eben eine Gemeinschaft, sagt der oberste Bertinger. Mag sein, dass solche Worte für Horst-Dieter Selent nach Kollektiv klingen, zumal Jens Kronfeld NVA-Offizier war. Nein, der Bürgermeister will sich raushalten – Kronfeld ist mit Selents verwandt – und bescheinigt Horst-Dieter Selent dann doch bis „an Größenwahn grenzende Rechthaberei“. Der Gemeinderat hat dieses Attest unterschrieben, das seit einer Woche im Schaukasten hängt. Ein Ost-West-Problem sei das nicht, wie es in der Lokalzeitung stand. Schließlich gebe es andere Westdeutsche in Bertingen, die integriert seien. Wie die Westberliner mit ihrem Westernreithof „Little Big Town“. Und zum Eichenfest kommen ja auch viele. Jens Kronfeld redet wie das Papier, das draußen hängt, offiziell, wichtig und weiß. Und fügt hinzu: „Herr Selent ist nicht bereit, vorhandene grundsätzliche menschliche Dinge zu akzeptieren. Und das als Psychologe!“ Die Handkanten fallen auf den Schreibtisch. „Er macht seins, wir machen unsers!“ Und schickt ein Wort hinterher wie auf Gipfeltreffen: „Friedliche Koexistenz.“

Horst-Dieter Selent hat sich hingelegt – der Kreislauf. Vor dem Haus fährt ein Streifenwagen. Nebenan im Saloon in „Little Big Town“ beginnt der Squaredance. Gitarren sind an die Decke genagelt, Lautsprecher scheppern. Jugend steht rum, zum Reden ist’s zu laut, doch die Sprache scheint klar: Hier braucht keiner Polizei, was ansteht, regeln sie selbst. So hart und gerecht wie die Jungs auf dem „Bonanza“-Bild über der Tür, die deutsch-deutschen Cowboys. Horst-Dieter Selent war hier noch nie.

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