Neuauszählung der Kommunalwahl: Schüler benachteiligen Rot-Grün
Bremerhavens Stadtrat bleibt unverändert, obwohl sich bei der Neuauszählung Fehler fanden. Experten fordern mehr Zeit fürs Zählen.
„Zwar scheint die Zahl der Fehler hoch“, sagte Magistratsdirektor und Stadtwahlleiter Claus Polansky – doch für das Endergebnis der Wahl seien sie „nicht relevant“. Die rechtspopulistische Gruppe „Bürger in Wut“ um Jan Timke, deren Einspruch zur Nachzählung geführt hatte, musste sogar Stimmenverluste hinnehmen, während SPD und Grüne am meisten profitierten.
„Damit ist der geäußerte Verdacht eindeutig widerlegt, dass Schüler bei der Auszählung systematisch oder vorsätzlich Ergebnisse manipuliert hätten“, sagt Polansky. Der Landeswahlleiter Jürgen Wayand sieht das ähnlich: „Aus meiner Sicht zeigt die Nachzählung vor allem, dass die festgestellten Fehler keine Absicht oder grobe Fahrlässigkeit erkennen lassen.“
Die Urnenwahl wurde in Bremerhaven ausschließlich von wahlberechtigten GymnasiastInnen ausgezählt. Das muss sich ändern, findet Timke: Die Schüler seien „in der Masse nicht in der Lage, die Wahl gewissenhaft auszuzählen“. Als Beweis dienen ihm die Ergebnisse der Briefwahl, die nicht von Schülern ausgezählt wurden. Dort sei die Fehlerquote „um ein vielfaches niedriger“ als bei der Urnenwahl. Zudem bestehe in zwei Wahlbezirken der Verdacht der Wahlfälschung. „Das geht einfach nicht“, so Timke, hier habe die gegenseitige Kontrolle der AuszählerInnen „überhaupt nicht funktioniert“.
Die stellvertretende Stadtverordnetenvorsteherin Irene von Twistern (CDU) nahm die SchülerInnen hingegen in Schutz: Es habe keine Mängel in der Schulung gegeben und man könne auch nicht sagen, dass die SchülerInnen „oberflächlich“ gearbeitet hätten. Zwar seien die Fehler „ärgerlich“ und einige davon auch „sehr auffällig gewesen“ – das Gros der Stimmzettel aber war „völlig in Ordnung“.
Auch der Grünen-Politiker Wilko Zicht verteidigte die GymnasiatInnen. Er hat das aktuelle Wahlrecht maßgeblich beeinflusst und sitzt im Wahlprüfungsgericht. Dass nur SchülerInnen die Wahl ausgezählt hätten, sei „nicht das Problem“, sagt Zicht. Zwar sei die Fehlerquote „auf jeden Fall zu hoch“, so Zicht, sie ließe sich seiner Ansicht nach aber entscheidend senken, wenn alle Stimmzettel von vornherein zwei Mal ausgezählt würden.
Das würde seinen Berechnungen nach die Zahl der fehlerhaften Stimmzettel im konkreten Fall auf deutlich unter 100 senken und so „in den allermeisten Fällen ein hinreichend genaues Ergebnis“ liefern. Eine obligatorische dritte Auszählung lohne aber den Aufwand nicht, so Zicht. Auch Timke plädiert dafür, langsamer auszuzählen und den Wahlvorständen „mehr Luft“ zu verschaffen. „Es besteht grundsätzlich die Gefahr, dass Zeitdruck mit Qualitätseinbußen verbunden ist“, sagt auch Landeswahlleiter Wayand. Es sprächen einige Gründe dafür, den zeitlichen Druck von der Auszählung zu nehmen.
Ähnlich wie Zicht argumentiert der Wahlforscher Lothar Probst von der Uni Bremen. „Es sollte ein Doublecheck-Verfahren geben, auch wenn das zeitaufwendiger ist“, sagt der Politikwissenschaftler, „das minimiert zumindest die Fehlerquote.“ Im Einsatz von SchülerInnen bei der Abrechnung der Wahl sieht er aber „nicht grundsätzlich“ ein Problem.
Die Fehlerquote, so Probst, „hat natürlich auch ein bisschen mit dem 5-Stimmen-Wahlsystem zu tun“. Gerade deshalb solle genaues Zählen Vorrang haben vor einer „vorschnellen Verkündigung des amtlichen Endergebnisse“. Über mögliche Änderungen am Wahlrecht soll nun ein eigener Ausschuss der Bürgerschaft debattieren, der laut Zicht zumindest „noch in diesem Jahr“ seine Arbeit aufnehmen soll.
Das Ergebnis der Neuauszählung der Kommunalwahl in Bremerhaven könnte auch für das dortige Ergebnis der Landtagswahl Auswirkungen haben. Dort hatte das Wahlprüfungsgericht beschlossen, dass Thomas Jürgewitz von der AfD ein Sitz im Landtag zusteht, zu Lasten der SPD. Nachdem sich die AfD das Recht erkämpft hatte nachzuzählen, wies sie Unregelmäßigkeiten nach.
Es sei davon auszugehen, dass es auch bei der Landtagswahl in Bremerhaven Fehler gegeben habe, so Probst. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sich das auf die Mandatsverteilung auswirken würden, sei „zumindest sehr hoch“. Im Sinne der Fairness sei es geboten, hier auch eine Nachzählung zu veranlassen – auch ohne dass das durch eine Anfechtungsklage durchgesetzt werde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe