Anmerkung über Anmerkung

Geschichte Adolf Hitlers „Mein Kampf“ ist nach 70 Jahren in einer kritischen Edition erschienen. Ziel der Herausgeber war die Dekonstruktion des Hitler’schen Aufrufs zu Rassenhass. Ist das gelungen?

1. Januar 1933: Eine Buchhandlung in Berlin bietet einschlägige propagandistische Naziliteratur an, darunter „Mein Kampf“ Foto: Scherl/SZ Photo

von Klaus Hillenbrand

Man muss mit seinem Urteil vorsichtig bleiben, sehr vorsichtig sogar. Ist dieses Buch mitsamt seinem Autor nicht schon einmal von der Kritik zerrissen worden? Bald 90 Jahre ist das her. Hat man nicht schon damals versucht, das Werk ins Lächerliche zu ziehen, sich über Stilblüten hermachend, und dem Autor jegliche Wirkungsmacht abgesprochen? Es ist bekanntlich anders gekommen. „Mein Kampf“ von Adolf ­Hitler war eine der Grundlagen für die europäische Katastrophe. Das Buch erlebte eine Auflage von mehr als 12 Millionen Exemplaren.

Zur ersten Wiederauflage dieses Buchs mangelte es nicht an warnenden Stimmen. Ronald S. Lauder vom Jüdischen Weltkongress empfahl, das Werk „im Giftschrank der Geschichte“ einzuschließen. Vielen überlebenden Juden ist die Vorstellung, „Mein Kampf“ im Schaufenster einer deutschen Buchhandlung zu finden, ein entsetzlicher Gedanke. Der Literaturwissenschaftler Jeremy Adler hat erklärt, dass sich ein solches Machwerk durch eine Edition grundsätzlich nicht erschließen lasse, ja, dass es der Tradition entspreche, nur solche Texte zu edieren, die auch einen ethischen Wert besitzen. Dazu zählt „Mein Kampf“ gewiss nicht.

Allerdings haben es die Kritiker unterlassen, einen Weg zu empfehlen, wie mit diesem Buch denn ihrer Auffassung nach umzugehen sei. Die Entscheidung, etwas nicht der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ist ein Akt der Zensur, die einer schlagenden Begründung bedarf. Den „Giftschrank“ hat „Mein Kampf“ dank des Internets ohnehin längst verlassen. Ist es also ethisch nicht geradezu geboten, dieses Buch, versehen mit erklärenden Anmerkungen, endlich wieder zu publizieren?

70 Jahre Veröffentlichungsverbot haben aus „Mein Kampf“ einen Mythos werden lassen, ein Faszinosum, auf dessen Lektüre mit Geilheit gewartet wird. Der Giftschrank wird geöffnet und wir alle dürfen von diesem gefährlichen Kraut konsumieren, das einen Kontinent mit ins Verderben gestürzt hat. Wirkt das Gift noch? Werden wir davon in gefährliche Rauschzustände versetzt? Oder dürfen wir es unseren Schulkindern in homöopathischen Dosen verabreichen, auf dass es deren Immunsystem stärkt? Womit wir beim Werk selbst angekommen sind.

„Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition“ lautet sein Titel, in dem der Urtext der „Hitler-­Bibel“ auf jeder Doppelseite derartig links, unten und rechts von Anmerkungen eingekesselt und so ergänzt ist, dass die beiden Bände zusammen auf sechs Kilogramm Gewicht kommen und keinesfalls als Reiselektüre empfohlen werden können. Das Ziel der Herausgeber war die Dekonstruktion von Hitlers autobiografischer „Abrechnung“ mithilfe dieser Erklärungen. Der Historiker Christian Hartmann hat seine Aufgabe bisweilen mit einem Kampfmittelräumdienst verglichen, einer Einheit also, die die Bomben im Krieg entschärft. Soweit dieser Anspruch überhaupt einlösbar ist, ist dies den Herausgebern gelungen. Der Verdacht, sie könnten über das Ziel hinausgeschossen sein und etwa versucht gewesen sein, mit Polemiken gegen „Mein Kampf“ ins Feld ziehen, entpuppt sich als gegenstandslos. Diese besondere Art von Fußnoten sind knochentrocken.

Ein kluges Vorwort leitet den ersten Band ein, der die Hintergründe zum Entstehen von „Mein Kampf“ erklärt, den ­Aufbau dieses Buchs, seine Sprache und Funktion bespricht. Die Anmerkungen selbst gehen über alles hinaus, was in der historischen Wissenschaft üblich ist.

Zunächst legen sie die trüben Quellen von Hitlers angelesenen Weisheiten offen. Es ist ein Verdienst der Ausgabe, dass damit deutlich wird, dass der „Führer“ zu kaum einem eigenen originellen Gedanken fähig war – egal ob Antisemitismus und Rassenhass, sein völkisches Denken und die Vorstellung der Eroberung von „Lebensraum“ im Osten, seine Ablehnung von Demokratie und Parteien, wirklich alles in seinem Gedankengebäude ist geklaut. Dass dieser geistige Diebstahl dem Erfolg dieses Mannes nicht schadete, steht auf einem anderen Blatt.

Die Anmerkungen entlarven die Schummeleien, Halbwahrheiten und Lügen, etwa dann, wenn Hitler auf seine eigene Biografie eingeht und sich dabei zum verkannten Genie stilisiert. „Die beiden Lieblingsfächer, in denen ich in der Klasse vorschoß“, so behauptet der Autor, seien Geografie und Geschichte gewesen. In Wahrheit erhielt Hitler in beiden Fächern nur ein „genügend“.

„Dreitausendsechshundert feindliche Augen“ – bei 2.000 Teilnehmern – hätten ihn bei Massenkundgebungen in der Frühzeit der NSDAP getroffen, denen er „die Wahrheit eingepflanzt“ habe, schreibt Hitler. Die Realität ist banal: Niemals sind in dieser Zeit überhaupt so viele Hitler-Gegner in seine Versammlungen gekommen, weil kaum jemand den Agitator ernst nahm.

Darüber hinaus wird dem Leser eine Einordnung in den historischen Kontext geboten. Das reicht von der deutschen Kolonialpolitik in den 1880er Jahren bis zur Popularität von Boxkämpfen in der Weimarer Republik. Manch ein Experte mag sich daran stören, für den gemeinen Leser sind diese Anmerkungen überaus praktisch.

Das Grundproblem einer kritischen Edition haben die Herausgeber selbstverständlich nicht lösen können. Der geneigte Leser kann Hitlers Text mitsamt den Anmerkungen lesen, oder er entscheidet sich dafür, nur den Text zu konsumieren. Die Anmerkungen allein – das geht natürlich nicht. Wer nun welche Textteile lesen wird, entzieht sich auch weiterhin der Wissenschaft.

Es wird deutlich, dass der „Führer“ zu kaum einem eigenen originellen Gedanken fähig war

Vielleicht beruhigt sich nach der Auslieferung der ersten 15.000 Exemplare die Aufregung über das Buch ein wenig. Dann könnten auch all die Kultusminister und Lehrer zu der Einsicht kommen, dass die Integration der kritischen Edition in den Schulunterricht ganz so dringlich nicht ist. Denn schon seit Jahrzehnten liegen – etwa von Walther Hofer – Zusammenstellungen von Dokumenten aus dem Nationalsozialismus vor, in denen auch „Mein Kampf“ zitiert wird und die erfolgreich in den Unterricht integriert worden sind. Es sei an dieser Stelle vorsichtig daran erinnert, dass mit der Edition von „Mein Kampf“ die NS-Geschichte keinesfalls neu geschrieben werden muss.

Oft genug ist „Mein Kampf“ von Kritikern als unlesbar bezeichnet worden. Das mag auch als eine Selbstentlastung derjenigen gedient haben, die nach dem Krieg behaupteten, von Judenhass und Massenmord gar nichts mitbekommen, geschweige denn „Mein Kampf“ gelesen zu haben. Doch angesichts des verquasten Stils Hitlers, der von endlosen Re­dun­danzen, gequälten Formulierungen und langatmiger Geschwätzigkeit geprägt ist, ist da schon etwas dran.

Der Autor dieses Textes bekennt, dass er sich zwei Tage lang nahezu ununterbrochen mit den 1.966 Seiten der kritischen Edition beschäftigt hat. Nach Lektüre mehrerer Tausend Anmerkungen und weiten Teilen von Hitlers Text kommt er zu dem Schluss, dass „Mein Kampf“, dieser Aufruf zu Rassenhass und Mord, jetzt noch unlesbarer geworden ist als vorher.

Es erscheint mehr als abwegig, dass „Mein Kampf“ heute noch eine volksverhetzende Wirkung zu verbreiten vermag, zumal in dieser Ausgabe. Ob es den Herausgebern gelungen ist, dem Buch das letzte Quantum Gift zu entziehen? Das zu beurteilen, würde hellseherische Fähigkeiten voraussetzen. Gelungen ist in jedem Fall, einen der zentralen Quellentexte des Nationalsozialismus für eine breite Öffentlichkeit zu erschließen.

Wahrscheinlich aber werden viele Käufer diese Neuerscheinung niemals zu Ende lesen. Denn der Mythos entpuppt sich als abgestandenes und ungenießbares Gebräu.

Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger, Roman Töppel: „Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition“. Herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte, München/Berlin 2016, 2 Bände, 1.966 Seiten, 59 Euro