: Neu in Moskau: Antistalinismus e.V.
Heute wird die sowjetische informelle Gruppe „Memorial“ legalisiert / Jetzt können Spenden für Dokumentationszentrum über die Gulags gesammelt werden ■ Aus Berlin Barbara Kerneck
Heute soll es in Moskau soweit sein. Vierhundert bis fünfhundert Delegierte der bisher nur informellen antistalinistischen Vereinigung „Memorial“ wollen ihre Gruppe nun auch in der juristischen Form eines Vereins offiziell gründen. Damit kann „Memorial“ in Zukunft beispielsweise ein eigenes Spendenkonto eröffnen. Bisher konnten die Sowjetbürger lediglich für die Errichtung eines Mahnmals für die Opfer des Stalinismus spenden, ein Vorhaben, das auch von der Regierung unterstützt wird.
Die Legalisierung betrifft vorerst nur die Moskauer Sektion. „Eigentlich sollte das schon im Dezember passieren“, sagte der Historiker Arsenig Roginskij, der dem Organisationskomitee „Memorial“ angehört. „Aber damals war die Sache noch nicht ausdiskutiert. Diesmal sind wir uns sicher. Wir haben uns für Samstag, den 14., den großen Saal im Künstlerhaus am Krymskij Wal reservieren lassen.“
In den nächsten Tagen und Wochen sind in zahlreichen sowjetischen Städten Parallel-Gründungen geplant. In einer zweitägigen Sitzung, am 28. und 29. Januar wird sich dann die Gesellschaft im gesamtsowjetischen Maßstab konstituieren.
Am Anfang der Gesellschaft „Memorial“ stand eine von Gorbatschow selbst gutgeheißene Unterschriftensammlung zugunsten der Errichtung eines großen Denkmals für die Opfer des Stalinismus bei Moskau. Doch die Aktivitäten der Befürworter gingen schon bald über dieses Projekt hinaus.
Gedenkwochen und Ausstellungen über die Repressalien gegen Unschuldige während der Stalinzeit wurden veranstaltet (taz, 24.12.1988). Demnächst soll eine Wanderausstellung, die kurz vor Weihnachten in Moskau gezeigt wurde, auf Tournee in andere Städte der Sowjetunion gehen.
Der Plan zur Errichtung eines großen Dokumentationszentrum entstand, in dem alles noch vorhandene Wissen über die Verbrechen der Stalinzeit gesammelt werden sollte. „Wir stehen erst am Anfang unserer Dokumentationsarbeit“, erklärte Roginski. Bisher wurde „Memorial“ lediglich eine Fünfzimmerwohnung am Moskauer Thälmann-Platz zur Verfügung gestellt. Bei bis zu hundert Besuchern, die täglich Dokumente und Augenzeugenberichte vorbeibringen, ist das Gedrängel unzumutbar geworden.
Dem Ehrenvorstand von „Memorial“ gehören Prominente wie Akademiemitglied Sacharow und den Chansonnier Bulat Okudschawa an, aber auch Enfant terrible Boris Jelzin. Heute existiert „Memorial“ in fast hundert Städten der Sowjetunion. Die neue Leitung soll förderalistisch aufgebaut werden. Auch ein verbindlicher Katalog von Zielen soll nach der Vollversammmlung im Januar aufgestellt werden, denn so Roginskij zur taz: „Unsere Basis wird die 'individuelle‘ Mitgliedschaft sein. Wir halten es für einen wichtigen Faktor der Demokratisierung, daß die Leute nicht automatisch eintreten, wie es bei anderen Massenorganisationen in unserem Land ist, etwa weil sie zu einer bestimmten sozialen Gruppe gehören. Jedes Mitglied soll bei uns vielmehr die Möglichkeit sehen, ganz persönliche Hoffnungen und Wünsche zu realisieren.“
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