■ Neu im Kino: Am Ende eines langen Tages
Neu im Kino:
Am Ende eines langen Tages
Im Kino wird fast ausschließlich in Geschichten erzählt, aber die eigenen Erinnerungen bestehen viel eher aus Bildern, Tönen, Gefühlen oder Personen, die für sich stehen. Die eigene Kindheit ist kein Plot, sondern setzt sich zusammen aus Einzelheiten wie den Mustern der Teppiche im Elternhaus; dem Klang der damals aktuelle Musik aus dem Radio; der Art, wie man von der Mutter ins Bett geschickt wurde oder den Ängsten vor den strengen Lehrern in der Schule.
Der britische Regisseur Terence Davies hat über seine Kindheit im Liverpool der Jahre 1955/56 einen Film gemacht, der aus solch einer assoziativen Folge von Szenen, Musik, Sprache und Bildern besteht. So erzählt er nicht von der glücklichen Zeit seines elfjährigen Alter egos Bud, sondern er zeigt uns seine Erinnerungen daran. Das sind keine realistischen Bilder, sondern zum Teil hemmungslos romantische Verklärungen: Zu Weihnachten steht nicht nur die Familie am festlich geschmückten Tannenbaum, sondern es schneit auch noch direkt im Wohnzimmer.
Im Klassenraum versinken plötzlich alle Mitschüler im Dunkel, und Bud wird von einem Tagtraum auf ein Segelschiff in der tobenden See versetzt. Traum und Wirklichkeit verschwimmen auch sonst sehr oft: der gefürchtete schwarze Mann steht plötzlich tatsächlich im Korridor und entpuppt sich als freundlicher Farbiger, der sich in der Adresse geirrt hat. Die schlagenden Lehrer und gehässigen Mitschüler in der Schule sind schlimmer als die Alpträume, vor denen Bud in die Arme der zärtlich fürsorglichen Mutter flüchten kann.
Gerade weil Davies so genau ins Detail geht, sind seine ganz persönlichen Erinnerungen auch für Zuschauer aus ganz anderen Generationen und Ländern interessant — und das macht die große Faszination dieses Filmes (und des ähnlich strukturierten „Distant Voices, Still Lives“ aus dem Jahre 1988) aus.
Auch wenn die Schlager von Nat King Cole und Judy Garland, die original Stimmen von Orson Welles und Alec Guinness aus den alten Filmen oder die dunklen, regnerischen Stimmungen Liverpools nicht den eigenen Erinnerungen entsprechen, fallen einem doch unwillkürlich die Lieder, Filme und Fensterausblicke aus der eigenen Autobiographie ein. Davies' langsam getragener Bilderfluß läßt dazu viel Raum, so daß man zwei Filme zur gleiche Zeit sehen kann: den auf der Leinwand und die eigene Variation im Kopf.
Wilfried Hippen
Cinema tägl. 20.45 Uhr
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