"Netzeitung" stellt Kolumne "Altpapier" ein: Das gallische Dorf ist gefallen
Seit der ersten Netzeitungs-Ausgabe im November 2000 war die Medienkolumne "Altpapier" erschienen. Nun fällt sie dem Sparprogramm zum Opfer.
"Alles schmeckt nach Abschied", schrieb gestern das "Altpapier" der Netzeitung, meinte den Tod von Horst Tappert - und auch sich selbst. Noch vier Mal öffnet sich der Deckel dieser alles andere als alten Stoffsammlung der täglichen Medienberichterstattung, dann ist zumindest unter dem Dach der Netzeitung Schluss. Seit der ersten Netzeitungsausgabe im November 2000 war die Kolumne, die die tägliche Medienberichterstattung liebevoll gegen den Strich bürstete, erschienen. Und zumindest in den ersten Jahren war das "Altpapier" Pflichtlektüre in den anderen Medienredaktionen: Kam man vor? An welcher Stelle? Und vor allem: Hatten die Recycling-Kollegen die ein oder andere sorgfältig gesetzte ironische Spitze verstanden?
Jetzt müssen neben den Altpapier-Autoren alle verbleibenden 15 freien Mitarbeiter der ersten nur im Internet erscheinenden Zeitung Deutschlands, die mit großen Erwartungen als innovatives Projekt nach dem Vorbild der norwegischen Nettavisen gestartet war, gehen. Und die Netzeitungsredaktion selbst geht, auch wenn der Name bestehen bleibt, im Internetpool der anderen Blätter des Berliner Verlags (Berliner Zeitung, Kurier) auf. Der gehört bekanntlich mit zum Schattenreich des Medienunternehmers David Montgomery, dessen Mecom-Konzern üppige Renditen verspricht - aber dessen Aktienkurs beim Schreiben dieser Zeilen bei aufregenden 1,5 Pence (rund 2 Cent) lag. Über derlei Dinge steht in der Berliner Zeitung und anderen Mecom-Blättern natürlich nichts. Nur eine kleine Netzeitungs-Kolumne konnte sich wie das gallische Dorf der konzernweiten Nachrichtensperre widersetzen: Wie hätte denn auch ein "Altpapierkorb" ausgesehen, der die republikweite Berichterstattung über die Auseinandersetzung der Berliner Zeitung mit David Montgomery und dessen Deutschland-Vasallen Josef Depenbrock ignoriert?
Trotzdem war das "Altpapier" zuletzt unwichtiger geworden: Um steile Thesen nie verlegene Mediendienste wie turi2 des ehemaligen Kress-Chefredakteurs Peter Turi, die sich gleich zweimal täglich mit Newslettern in Erinnerung bringen, haben ihm im hektisch-selbstverliebten Meta-Geschäft mit der Medienberichterstattung den Rang abgelaufen. Doch wo finden wir ab Ende der Woche so wunderbare und gleichzeitig kundige Hinweise wie den zum Ableben des langjährigen Oberinspektors? "Am besten gewürdigt wird Horst Tapperts Lebenswerk in den drei Bestandteilen, in die die Hamburger Mediengruppe Reproducts eine Derrick-Folge zerlegt hat", geht das gestrige, vorvorvorvorletzte "Altpapier" weiter: "12 Minuten Fall-relevanter Aussagen, 10 Minuten Schweigen und eineinhalb Minuten schweres Atmen." Es wird uns fehlen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich