Neo-viktorianischer Roman: Frau ohne Eigenschaften
Jeffrey Eugenides zeigt, wie schwierig es ist, im 21. Jahrhundert einen viktorianischen Roman zu schreiben. "Die Liebeshandlung" versteht die zeitgenössische Frau nicht richtig.
Will man der Literatur Glauben schenken, so müssen die Menschen im viktorianischen England vor erotischer Spannung fast geplatzt sein.
Die strikte gesellschaftliche Geschlechtertrennung und Rollenverteilung, die räumliche und geistige Beschränkung des weiblichen Geschlechts auf den Haushalt sowie die Bedeutung, die man der Wahrung des Anstands beimaß, führten dazu, dass es Angehörigen unterschiedlicher Geschlechter fast unmöglich gewesen sein muss, sich zwang- und absichtslos zu begegnen.
Das wissen wir aus den Romanen Jane Austens, Elizabeth Gaskells oder der Schwestern Brontë. Lebt man einsam auf dem Land, müssen sich junge Mädchen zwangsläufig in den einzigen anwesenden jungen Mann schicksalhaft verlieben, was zu einem dramatischen Erzählanlass werden kann, wenn dieser kein standesgemäßes marriage material ist ("Sturmhöhe" der Pastorentochter Emily Brontë).
Auch in einer Kleinstadt sind die Gelegenheiten dünn gesät. Der jährliche Offiziersball gerät da zum Riesenereignis, ist jedoch tendenziell gefährlich, weil mitunter auch erster Anlass zur Unzucht - wie in Austens "Stolz und Vorurteil", worin die leichtlebige Lydia mit einem Offizier durchbrennt, während die tugendhafte Elizabeth sich mit spitzen Bemerkungen über den hochmütigen Mr. Darcy begnügt.
Anständige Frauen wollen keinen Sex
Elizabeth und Darcy werden, wenn sie am Ende des Romans zum Ehepaar geworden sind, nicht einmal Händchen gehalten haben. Körperliche Formen geschlechtlicher Zuneigung sind etwas für die Lydias jener Welt. Anständige Frauen aber wollen keinen Sex, sondern geheiratet werden. Und das will erst einmal geschafft sein. Es dauert meist einen ganzen Roman lang. Das, in Kurzform, ist der klassische marriage plot.
Diesen und weitere spannende Artikel lesen Sie in der nächsten sonntaz vom 22./23. Oktober 2011 – ab Sonnabend zusammen mit der taz am Kiosk oder am eKiosk auf taz.de. Die sonntaz kommt auch zu Ihnen nach Hause: per Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz.
"The Marriage Plot" heißt nun Jeffrey Eugenides neuer Roman im Original, kaum zu übersetzen und daher mit dem deutschen Titel "Die Liebeshandlung" (aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt, 624 Seiten, 24,95 Euro) auch nicht ganz getroffen. Das macht aber nichts, denn ebendiese Übersetzungsunschärfe spiegelt das Spannungsfeld wider, in dem der Roman sein Zuhause sucht.
Auch seine Protagonisten, kaum ihren Elternhäusern entsprungene Collegestudenten, suchen ein Zuhause in dieser Welt - und, darin den Viktorianerinnen nicht unähnlich, irgendwie auch gleich einen Partner fürs Leben.
Eugenides hat eine saubere Dreierkonstellation aufgebaut, mit Eltern, Geschwistern und Bekannten als unverzichtbarem gesellschaftlichem Beiwerk. Da gibt es die junge Madeleine, ein Mädchen aus wohlhabendem akademischem Hause, das Literatur im Hauptfach belegt hat, da sie schon immer gern Bücher las. Dann den jungen Mitchell, der, wie sein Nebenbuhler findet, aussieht wie der junge Tom Waits, vor allem aber Christ ist und herauszufinden versucht, wie er mit seinem Glauben in dieser Welt umgehen soll.
Durch die Schablone lesen
Mitchell hat sich in den Kopf gesetzt, dass Madeleine die Frau sei, die er einmal heiraten werde. Doch da kommt ihm der brillante Leonard zuvor, in den Madeleine sich heftig verliebt. Leider stellt sich bald heraus, dass der Auserwählte manisch-depressiv ist, doch es ist zu spät. Madeleine hat zu lange in Barthes "Fragmente einer Sprache der Liebe" gelesen, als dass sie jetzt noch zurückkönnte.
LeserInnen viktorianischer Romane wissen, wie sich diese Konstellation weiterentwickeln müsste. Die Heldin würde ihren Liebesirrtum erkennen, wäre jedoch in der unglücklichen Ehe zu dem Kranken gefangen, bei dem sie aus Mitleid und menschlicher Größe bleiben müsste. Der jedoch, von der späten Einsicht geschlagen, dass eigentlich sein Nebenbuhler vom Schicksal für die von beiden geliebte Frau bestimmt sei, würde großmütig auf sie verzichten, worauf doch noch die wahren Liebenden zueinanderfinden könnten.
Ob es sich bei Eugenides genauso entwickelt, sei hier dahingestellt. Die häufigen inhaltlichen Bezüge auf den viktorianischen Roman und den marriage plot an sich - und überhaupt der stets im Hintergrund mitlaufende, zitatselige akademische Diskurs - zwingen aber einerseits offensiv dazu, auch den Eugenides-Plot durch diese Schablone zu betrachten.
Auf der anderen Seite allerdings ist die Durchführung dieses Plots - das "Verfahren", um es rein akademisch mit den Formalisten zu halten - reichlich unviktorianisch. Das liegt nicht einmal an den zahlreichen Sexszenen, die es bei den Viktorianerinnen nicht gegeben hätte. Immerhin ist dies ein amerikanischer Collegeroman. Und man könnte so weit gehen, zuzugestehen, dass es Eugenides sogar gelingt, die Liebe zu feiern, ohne den Trieb zu verdammen.
Behagliche Geradlinigkeit
Das wirklich und eigentlich Unviktorianische an Eugenides Liebesvariationen aber sind die behagliche Geradlinigkeit und unbekümmerte Gesprächigkeit seiner Prosa, die nichts, aber auch gar nichts an seinen Figuren unbeleuchtet lässt, es dabei aber dennoch versäumt, ihre wesentlichen Züge so deutlich zu umreißen, dass sie als Personen fassbar würden.
Ein großer Drang, innere Vorgänge in Worte zu fassen, treibt den Autor, uns seine Figuren, statt sie für sich selbst sprechen zu lassen, so lange zu erklären, bis wir ihrer beinahe überdrüssig werden. Einige Nebencharaktere, Madeleines Eltern etwa oder einzelne Typen aus der Collegewelt, sind mit wenigen Strichen prägnant und lebendig gezeichnet. Nur bei seinen Hauptfiguren scheint Eugenides beherrscht von einem narrativen Übereifer, der die Schwächen in der Konstruktion des grundlegenden Beziehungsdreiecks nur umso deutlicher zutage treten lässt.
Im Falle des manisch-depressiven Leonard gelingt Eugenides immerhin die beeindruckend erzählte Schilderung einer manischen Phase, und auch die Gottsuchereien des sensiblen, selbstkritischen Mitchell lassen sich nachvollziehen. Überhaupt ist Mitchell so etwas wie das geheime Zentrum des Romans, der differenzierteste Charakter, an den wir dadurch auch am nächsten herankommen (was möglicherweise auch daher rührt, dass er vom Autor mit so manchen autobiografischen Zügen ausgestattet wurde).
Aber ausgerechnet jene Person, um die alles kreist, die Frau, die beide Männer wollen, bleibt fast ganz ohne Eigenschaften. Wer zum Teufel ist Madeleine? Sie liest Romane, spielt toll Tennis, versteht sich gut mit ihren Eltern und ist ziemlich intelligent (aber längst nicht so brillant wie ihre beiden Verehrer). Ein nettes Mädchen: eine Dutzenderscheinung. Was für ein Segen, dass der Autor uns bereits zu Beginn wiederholt mitgeteilt hat, wie überdurchschnittlich bildschön sie ist, sonst hätten wir gar nicht so richtig verstanden, worum es in diesem Roman überhaupt geht.
Psychologisches Feintuning
"Middlesex", Eugenides letzter großer Roman, der unbestreitbar ein großer Wurf war, hatte kein vergleichbares Problem; in der opulent angelegten, epischen Geschichte einer eingewanderten griechischen Familie bestand keine Notwendigkeit für psychologisches Feintuning. Aber man muss sich jeweils an den Vorbildern messen lassen, die man so großartig vor sich herträgt; und wenn man die Chuzpe besitzt, die viktorianischen Meisterinnen der feinsinnigen Menschenbeobachtung auf ihrem Gebiet herauszufordern, so kann es passieren, dass man an der eigenen Kühnheit scheitert.
Ein Roman, der sich so sehr auf lediglich drei Personen konzentriert, trägt nicht über mehr als 600 Seiten, wenn auch nur eine einzige dieser Personen langweilig ist. Dass die fade Person dann noch ausgerechnet die Frau sein muss, ist auch deswegen furchtbar traurig, weil es zeigt, wie wenig Eugenides letztlich von den Viktorianerinnen verstanden hat.
Oder ist das ein ganz und gar ungerechter Eindruck? Hat im Gegenteil die Rezensentin den Autor falsch verstanden? Ging es ihm vielmehr darum, den überempfindlichen viktorianischen Roman auf links zu drehen und eine eher grobschlächtige männliche Sichtweise auf den komplizierten Tanz der Geschlechter umeinander auszustellen?
Wenn das seine Absicht gewesen sein sollte, dann ist sie ihm womöglich eher geglückt als das zunächst unterstellte Vorhaben, einen viktorianischen Roman mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts zu imitieren. Denn das kann er ja eigentlich gar nicht gewollt haben. Das wäre doch sowieso, bei allem, was Frauen und Männer heutzutage voneinander wissen sollten, fast unmöglich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers