■ Nebensachen aus Washington: Schwarze Rothäute am Weißen Haus
Keine fünfzig 50 Meter westlich des Washington Memorials bildet ein einziger urtümlicher Maulbeerbaum, der in mehreren Stämmen der Erde entwächst, einen kleinen Hain für sich. Auf der weiten, fast baumlosen Fläche zwischen Lincoln Memorial und Capitol Hill ist er einer der wenigen Schattenspender, und entsprechend groß ist unter seinem Blätterdach das Gedränge an diesem strahlend sonnigen Independance Day, an dem sich etwa eine halbe Million Menschen auf der Mall zum Nachmittagskonzert mit anschließendem Feuerwerk einfinden. Der Drang nach Schatten läßt die verschiedenen Rassen, Klassen und Völker Amerikas wie Wildtiere an der Tränke enger zusammenrücken.
Die geschwungen ansteigenden Stämme sind ein Kletterparadies für Kinder. Zuoberst sitzt früh am Nachmittag ein Rotschopf mit sonnenverbranntem Gesicht. Er sitzt in einer Astgabel, die auf dem von vielen Kletterversuchen blankpolierten Stamm etwas Halt gibt. Seine Position wird bald von einem dicken Jungen mit schmalen Augen bedroht. Am Fuß des Baums, wo eben noch zwei schwarze Stadtstreicher saßen, unterhalten sich zwei junge Männer auf spanisch darüber, daß sie die Einbürgerung bis zum 4. Juli nicht geschafft haben: ein Euphemismus dafür, daß sie illegal hier sind. Ein älterer Herr, der es sich umständlich mit einem Polsterkissen an einem anderen Stamm bequem gemacht hatte, horcht auf, grüßt und geht zu den beiden. Er kam auch vor Jahren bei El Paso rüber. Die beiden jungen Männer sprechen den schleppenden Dialekt von viel weiter südlich.
Inzwischen ist noch ein Junge nach oben unterwegs, sein Haar ist auffallend schwarz, er sieht aus wie ein Inder. Die Situation an der Astgabel wird kritisch. Der Junge ruft nach seinem Vater: „Daddy, Daddy!“ Der antwortet auf spanisch und ist nicht geneigt einzugreifen. Die beiden Schwarzen, die sich jetzt in den Schatten drängen, tragen weiße Trainingsanzüge mit Beeper im Gürtel, undurchsichtige Sonnenbrillen und verkehrt aufgesetzte Mützen. Sie finden sich bald in der Mitte einer dickleibigen mexikanischen Familie und gehen wieder.
Jetzt hat ein kleines Mädchen mit abstehenden Pippi-Langstrumpf-Zöpfen den Spaß am Klettern entdeckt. Sie ist sehr dunkelhäutig, fast – aber eben nicht ganz – schwarz und hat langes glattes, nicht gekräuseltes Haar. Auch sie gehört zu einer der spanisch sprechenden Familien. Der Rothaarige ist inzwischen herabgeklettert und verschwunden.
Mexikanisch, indisch, asiatisch und schwarz – ist es die Sommerhitze, die alles verschwimmen läßt oder der Zauber dieses Baumes, unter dem sich in den Gesichtern der Kinder die Vielfalt der Ethnien mischt? Als seien diese Kinder hier schon das Produkt der Aufhebung aller Rassen- und Klassenschranken? Nein, mit Zauber hat das nichts zu tun, und auch nicht mit der Annäherung der Rassen. Der Dicke mit den Schlitzaugen ist kein Chinese, sondern mexikanischer Indianer, der indisch aussehende Junge ebenso, die Schwarze mit den Zöpfen ist aus Chiapas.
Die Indianer kommen wieder. Was da wie die Vermischung der Völker und die wechselseitige Durchdringung ihrer Merkmale aussieht, ist die Wiederkehr der Indianer – in Gestalt der Einwohner Mittelamerikas. Nicht nur in Texas und Kalifornien, sondern mitten in Washington, in Sichtweite des Weißen Hauses. Peter Tautfest
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