■ Nebensachen aus Rio de Janeiro: Silvesterparty mit der Meeresgöttin
Bethlehem ist einfach zu weit weg. Von der gemütlichen Weihnachtsstimmung, der die christliche Welt regelmäßig am 24. Dezember verfällt, ist nur ein klitzekleiner Hauch an die Copacabana herübergeweht. Es gibt keine Zimtsterne, keinen Glühwein, keinen Adventskranz, sondern nur eiskalten Truthahn. Und selbst wenn es Stollen und Adventskalender aus Schokolade gäbe, wären all die kalorienreichen Köstlichkeiten ungenießbar. Bei Temperaturen um die 38 Grad wird Heiligabend von den „Cariocas“, wie sich die Einwohner Rios nennen, schlicht verschwitzt.
Eigentlich wäre es besser, Weihnachten an Silvester zu feiern, denn nach Weihnachten atmet Rio regelrecht auf. Dann nämlich kriechen alle aus ihren familiären Schlupflöchern und treffen sich am Strand, genauer gesagt: an der Copacabana. Angesichts des Jahreswechsels werden die rund zwei Millionen „Cariocas“, die im weißen Sand auf Mitternacht warten, sogar von weihnachtlichen Gefühlen wie Nächstenliebe überwältigt. Fünf vor zwölf fällt am Strand der Startschuß zur wilden Ausgelassenheit, zur spontanen Verbrüderung und zum hingebungsvollen Tanz. Es ist der Auftakt zum Karneval.
Silvester an der Copacabana ist mehr als eine Augen- und Ohrenweide, es ist eine Seelenweide. Von den großen Hotels mit über zwanzig Stockwerken stürzen Wasserfälle von Feuerwerkskörpern herab, und der Himmel über dem Meer glänzt hell von den unzähligen künstlichen Sternschnuppen, die hoch oben am Horizont explodieren. Doch am kräftigsten leuchten die Millionen von Menschen, die der Meeresgöttin Iemánja am Strand ihre letzte Ehre im alten Jahr erweisen.
Nein, nicht im Bikini oder in der Badehose. Silvester muß der verführerische Anblick von „Zahnseide“ (so der Name für brasilianische Tangas) inmitten gebräunter Pobacken hinter der Anbetung der Meeresgöttin Iemánja zurückstehen. Ihr zu Ehren kleidet sich ganz Rio de Janeiro in züchtiges Weiß. Denn „Weiß“, so steht es in den Geboten der afro-brasilianischen Umbanda-Religion geschrieben, ist die Farbe für Tod und Leben gleichermaßen, symbolisiert sowohl Ende als auch Anfang. Wozu also Vergangenem nachhängen und Trauer tragen?
Überhaupt, Silvester ist in Rio der kollektiven Ästhetik gewidmet. Obligatorisches Zubehör der blütenweißen Tracht sind rote Rosen. Beim Verführen der Meeresgöttin scheuen die „Cariocas“ keinen Aufwand: Blumen, Parfüm, Schmuck und Champagner dienen als Opfergaben, um das Wohlwollen der Iemánja für das kommende Jahr zu erheischen. Ein Bad in den Meereswogen erhöht die Fruchtbarkeit und hilft, der Meeresgöttin ein wenig näher zu kommen.
Nach den Umbanda-Riten müssen sich die Orixas, wenn sie nicht wieder auf dem Meeresgrund versinken, schnellstens mit Oropax versorgen. Denn dem Neujahrstaumel halten selbst diese afrikanischen Götter nicht stand. Kurz nach Mitternacht schnellt das Karnevalfieber nach oben, und Zuckerrohrschnaps sowie alle erdenklichen Alkoholableger fließen literweise durch die Kehlen der Iemánja-Anbeter. Wer sich dabei als Zuschauer im Sand die Beine steifsteht, wirkt inmitten der kollektiven Tanzorgie wie ein Fremdkörper. Axé, Gott schütze Dich!
Astrid Prange
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