■ Nebensachen aus Paris: Nach 36 Jahren ist das Schweigen gebrochen
Es ist eine jener Sternstunden, wie sie in der Geschichte der Straßendemokratie nicht oft vorkommen. Auf der Pariser Pont Saint Michel sind an diesem Freitag abend Franzosen und Algerier, Internationalisten, religiöse Fundamentalisten und Nationalisten, Muslime, Christen, Juden, Kommunisten und solche, die längst alle Kapellen verlassen haben, versammelt. Manche haben weiße Nelken mitgebracht, andere rote Rosen. Manche singen die Internationale, andere Rap. Auf einem der seltenen Transparente steht: „Papon – Mörder von Juden und Algeriern“. Auf den Asphalt sind die Konturen von Körpern gezeichnet, im Fluß schwimmen lebensgroße Puppen.
Ein jeder erinnert an diesem Abend nach seiner Façon an eine andere Demonstration, bei der am 17. Oktober 1961 Hunderte von Algeriern von der Polizei ermordet und in den Fluß geworfen worden waren. 36 Jahre danach ist das Schweigen gebrochen. Der damalige Polizeichef von Paris, Maurice Papon, steht jetzt vor Gericht. Zwar ist er ausschließlich wegen der Organisation der Deportation von 1.560 Juden aus Bordeaux angeklagt. Aber seine späteren Tätigkeiten als Hüter der kolonialen Ordnung im algerischen Constantine und dann, 1958 bis 1967, als Polizeichef von Paris, sind nicht vergessen.
„Als Präfekt hat er uns verboten, den 8. Mai zu begehen“, erzählt einer, der in Constantine zur Schule gegangen ist und heute im französischen Asyl lebt. Die umstehenden Algerier nicken. Die Europäer gucken verständnislos. Dann erfahren sie, daß an demselben Tag, den sie als Ende des Zweiten Weltkriegs kennen, in Algerien Tausende von Unabhängigkeitsdemonstranten von französischen Militärs ermordet wurden.
Ein 68jähriger ehemaliger Bauarbeiter ist im Feiertagsstaat gekommen, um an jene Nacht zu erinnern, in der er mehrere gleichaltrige Freunde verloren hat. „Die durften das nicht. Wir waren doch noch Franzosen“, sagt er über den Polizeieinsatz.
Wann er zum erstenmal wegen „der Ereignisse in Algerien“ auf die Straße gegangen ist, weiß der 75jährige Franzose auf der Brücke nicht mehr. „Ich war damals Kommunist“, erklärt er und „natürlich für den Rückzug aus der Kolonie.“ Deswegen habe er auch keinen Moment daran gezweifelt, daß es französische Polizisten waren, die Demonstranten mit gefesselten Händen und Füßen in die Seine geworfen haben, und nicht etwa verfeindete algerische Gruppen, wie Papon glauben machen wollte.
„Wer Angst hat, macht keine Revolution“, meint ein 70jähriger Algerier, der 1961 nach der – verbotenen – Demonstration gegen das nächtliche Ausgehverbot mehrere Tage in ein Stadion gesperrt war. Heute sagt er: „Schwamm drüber.“ Längst nicht alle sind damit einverstanden. Manche glauben, daß die Öffnung der Polizeiarchive „vielleicht“ etwas Klärung bringt – „vorausgesetzt, Papon hat sie nicht gesäubert“. Andere wollen die Anklage gegen ihn erweitern.
Ein junger Algerier will etwas anderes, das dem Geist dieser Demonstration völlig zuwiderläuft. „Frankreich hat nichts gelernt“, ruft er. „Ihr unterjocht uns immer noch. Eines Tages werden wir uns rächen.“ Die Umstehenden lassen ihn ausreden. Dann ergreift ein Franzose, der sagt, daß seine Großeltern jüdische Immigranten aus Polen waren, das Wort: „Was heißt ihr, was heißt wir. Am Ende sind wir alle ein Haufen weißer Knochen.“ Dorothea Hahn
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