■ Nebensachen aus Moskau: Die Russen sind eigentlich immer auf Reisen
Inzwischen trifft man sie überall, in London, auf den Bahamas, in Paris, Singapore oder New York. Und sie waren schon immer vor einem da, scheint es. Die Russen hat das Reisefieber gepackt, und ist es nicht verwunderlich, wo immer sie hinkommen, beherrschen die Gastgeber bereits das Idiom der Gäste. Überall dürfen und können sie sich zu Hause fühlen. Wären es nur die Neuen, sprich: die superreichen Russen, die über den Globus surfen, was müßte Rußland für ein wohlhabendes Land sein. Unterdessen leisten sich auch die kleinen Männer und Frauen des öfteren einen Auslandstrip.
Ganz zum Leidwesen solcher Snobs wie Michail Ljubimow, der im Auftrage seiner Agentur, des KGB, schon früher reisen durfte, bevorzugt nach London. Landsleute sind dem distinguierten nationalen Zwitter mittlerweile ein Graus. Wo sie abstiegen, klagt er, werde der Service schlecht, verschwänden die Handtücher, gäben die Fahrstühle ihren Geist auf und kämen die Hamburger halbgar daher. Wie gesagt, ein Snob, der inzwischen wohl in zweitklassigen Etablissements unterschlüpfen muß.
Eigentlich sind und waren die Russen immer auf Reisen. Doch wohin? Seit hundert Jahren pilgern sie ruhelos umher. Das Dorf zog in die Kreisstadt, die Kreisstadt in das Zentrum des Gouvernements, das wiederum in die Hauptstadt. Am Ende sind die Städte hoffnungslos überfüllte Dörfer, während der ganze Staat mit unbestimmter Destination unterwegs ist. Eine Komsomolzenhymne verherrlichte diesen Zustand: „Meine Adresse hat weder eine Hausnummer noch Straße, meine Anschrift heißt UdSSR.“
In den Tiefen ihrer Seele sind die Russen Nomaden. Die neue Ordnung zwingt den schwächeren Teil, langsam seßhaft zu werden. Das gewachsene Selbstbewußtsein der Provinz mag als Indiz gelten, daß sich nach Jahrhunderten allmählich ein Zugehörigkeitsgefühl entwickelt. Aus allen Teilen des Landes zusammengewürfelt, war der einzelne immer auf der Durchreise – machte Station. Die Behelfsmäßigkeit der Siedlungen und Behausungen, in der Steppe abgeworfene Betonschuber, Stilleben aus Bruchmaterial – all das sind Relikte des rastlosen Umherirrens. Ein festgefügter Hausstand, meinen boshafte Stimmen, sei nicht nach seinem Geschmack und das Leben ohnehin nur ein Jammertal, in dem es sich einzurichten nicht lohne.
Der eigentliche Wohnort, das Haus, ist daher der Zug, genauer: das Abteil. Die Literatur erhob es gar zum Schicksalsort. Der Reisende richtet sich flugs gemütlich ein, faltet ein Deckchen oder Zeitungspapier aus, holt gesalzene Gurken, Hähnchen und eingelegten Knoblauch hervor und beginnt das gemeinsame Schmausen. Er ist in seinem Element.
Schaut der Reisende nach Stunden aus dem Fenster, glaubt er noch am selben Ort zu sein. Die gleiche Ebene und Steppe, die gleichen verfallenen Bauernkaten, verrosteten Maschinen und düsteren Bahnhöfe. Die Entfernung saugt ihn in sich auf und raubt ihm zugleich das Zeitempfinden. Es gibt kein Ende, und doch hat am Ende die Monotonie ihn von der rastlosen Zeit befreit.
Rußland folgt einem eigenen Rhythmus. Die Weite leistet passiven Widerstand und gibt der Geschichte kaum eine Chance. Nur wenn sich die Natur verschluckt, spuckt sie Geschichte aus. Eruptiv und ziellos, wo sie eben hinfällt. In jenem Moment vergißt der Mensch für einen Augenblick Schwermut und Einsamkeit. Klaus-Helge Donath
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