■ Nebensachen aus Mexiko-Stadt: Schädel gegen Kürbisfratzen
Huntington hat doch recht. Der Kampf der Kulturen findet statt – und zwar in meinem Supermarkt. Dabei geht es vor allem um die Köpfe. Genauer: um Totenschädel gegen Kürbisfratzen. Auch um tanzende Skelette gegen tumbe Draculakostüme, um Plastik gegen Zuckerguß. Der Retortengrusel des Halloween, des schrillen Hexenkults aus den USA, und die fröhliche Melancholie des mexikanischen Dia de los Muertos, des Totentages – dazwischen liegen Welten.
Die Nacht der lebenden Toten ist in Mexiko keinesfalls ein Splattermovie, sondern jedes Jahr eine surreale Fiesta. Dann nämlich kommen die Toten zu Besuch – als Seelen der Verstorbenen, die von ihren Lieben noch einmal zu Tisch gebeten werden. Überall warten prallgeschmückte ofrendas, die Gabentische, darauf, den Gästen aus der Unterwelt die Wiederkehr schmackhaft zu machen. Alles leuchtet von dicken Büscheln der orangefarbenen Totenblumen. Kerzen und Weihrauch sollen den Seelen den Weg weisen, zur Stärkung gibt es Wasser, Salz, Früchte und Totenbrot sowie Bastmättchen zum Ausruhen und Fotos zum Wiedererkennen, auf daß sich keine Menschenseele aus Versehen am falschen Altar niederlasse.
Mexikos oft gerühmte Kinderfreundlichkeit macht auch vor dem Jenseits nicht halt. Zuerst werden für die kleinen Seelen allerlei Küchlein und Krüge voller Kakao bereitgestellt. Erst danach, in der Nacht zum 2. November, bekommen die erwachsenen Seelen ihre Lieblingsspeisen gekocht. Daß sie die Teller nicht mehr selber leeren können, wissen die Mexikaner wohl. An leckeren Gerüche und schönen Farben aber, davon ist man hier fest überzeugt, können sich auch die Seelen noch erlaben.
Diese muntere Allgegenwart des Todes reicht weit vor die christliche „Zivilisierung“ zurück. Nach aztekischer Vorstellung endete der Weg der Verstorbenen nicht in Himmel oder Hölle, sondern in verschiedenen „Regionen.“ Wer wohin kam, hing nicht vom Lebenswandel, sondern von der Todesart ab. So durften Krieger und beim Gebären gestorbene Frauen direkt zur Sonne auffahren, andere mußten eine längere Reise durch die Unterwelt antreten. Mit der Kolonisierung verschmolz das Totenfest der Azteken mit dem Allerseelen der katholischen Eindringlinge. Heute verschmilzt es zunehmend mit der Moderne.
So steht auch im Treppenaufgang einer großen Tageszeitung ein Blumenaltar mit Fotos von ermordeten Journalisten. Seit ein paar Jahren halten Schwule ihre nächtlichen Trauermärsche um die Aidstoten im Stadtzentrum unter der Schirmherrschaft von Doña Catrina, einer elegant gewandeten Skelettlady, ab. Der Tod ist in Mexiko kein düsterer Sensenmann, sondern eine Diva. Manch moderner Straßenhändler bietet mittlerweile, neben den Totenköpfen aus Zucker und Schokolade, Pappsärgen und Skeletten aus Blech und Pappmaché, ein aufblasbares Knochengerüst in Lebensgröße an.
Seit einiger Zeit bekommt La Catrina gruftige Konkurrenz aus dem Norden. Auf den Regalen liegen neben Totenschädeln grinsende Kürbisse, überall hängen Hexenhüte und monströse Spinnen von den Decken, und minderjährige Monster in Frankensteinkluft oder Gorillamontur belagern die Passanten um ein paar Pesos. „Gib mir Halloween!“ rufen sie und klappern mit ihren Plastikkürbissen.
Der gute alte Kulturimperalismus? Wohl eher verkehrte Welt: So glaubt der Time-Korrespondent, daß das horrorbegeisterte Mexiko dazu beitrage, die in den USA vom Aussterben bedrohte Hexenkultur zu erhalten. Und daß sich auf diesem Umweg die Mexikaner auch wieder mehr für die eigene „katholisch-aztekische Fiesta“ interessieren.
Ich jedenfalls bin an diesem Tag mit allem versöhnt. Weder Dauersmog noch Korruptionskarussell, weder der Hang zum Chaos noch die Liebe zum Lärm können mir etwas anhaben. Wer dem Tod so zärtlich in die hohlen Augen blickt, denke ich dann, hat gute Karten in der Kampfarena der Kulturen. Anne Huffschmid
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