Nebensachen: Washington: Touristenreservate?
■ Wenn US-Bürger die Reise nach „Darkest Germany“ wagen wollen
Der Abend war gelaufen. Nach dem Kino — Woody Allens „Husbands and Wives“ — war mir schon schlecht. Entweder lag's an der unruhigen Kameraführung oder an den Dialogen oder an beidem. Aber nicht darüber wurde anschließend diskutiert. Statt dessen fing meine Freundin Clarice an, von Deutschland zu reden.
„Marvin will für drei Wochen nach Deutschland. Und ich weiß nicht, ob ich ihn fahren lassen soll.“ Marvin ist ihr Lebensabschnittsgefährte. „Der Mann ist 35“, wende ich zaghaft ein. „Der wird schon nicht verlorengehen.“ „Vierunddreißig und außerdem Afroamerikaner“, sagt sie etwas ungeduldig angesichts meiner Begriffsstutzigkeit. „Du kennst dich doch aus mit deinen Landsleuten. Was ist los bei euch? Wo kann er eigentlich noch hinfahren, ohne an der Straßenecke von irgendeinem eurer frustrierten Jugendlichen eine auf die Schnauze zu kriegen?“
Als erstes verbitte ich mir die Anrede im Plural. Mich als nationales Kollektiv anzusprechen — darauf reagiere ich allergisch. Clarice packt ungerührt die New York Times vom Tage aus. Da steht auf Seite 1 zu lesen, daß, so Clarice, „eure Regierung“ nach lauten Protesten die Teilnahme an Feierlichkeiten für die V2-Rakete der Nazis abgesagt hat.
All das trägt natürlich nichts zur Beantwortung der Ausgangsfrage bei: Von mir möchte man immer häufiger wissen, in welchen deutschen Ecken Afroamerikaner in diesen Tagen touristische Sehenswürdigkeiten genießen können, ohne sich um ihre körperliche Unversehrtheit sorgen zu müssen. Liebe Güte, was soll ich machen? Auf der Landkarte des vereinigten Deutschlands kleine Toleranzzonen oder fremdenfreundliche Reservate schraffieren? Ich passe. „Sag ihm, er soll zu Hause bleiben.“
„Hab' ich ihm auch schon geraten. Aber er besteht auf seinem Menschen-, Verfassungs- und Sonstwasrecht, überall hinzufahren — wohin er gerade will.“ Aber wie immer versucht Clarice, der Situation einen konstruktiven Aspekt abzugewinnen. „Jetzt kapiert er vielleicht, wie Frauen sich jeden Tag in der U-Bahn oder auf Reisen oder sonstwo fühlen. Von wegen Grundrecht auf Bewegungsfreiheit.“ Sachlich völlig richtig — aber ob Marvin diesem Lernerfolg irgend etwas abgewinnen kann, bezweifle ich.
Nicht, daß Leute wie Marvin nicht wüßten, was Rassismus ist. Der Faktor Hautfarbe spielt in jeder Facette des US-Alltags eine Rolle — ob man einkaufen geht und sofort den Kaufhausdetektiv auf den Fersen hat, sich um einen Job bewirbt, bei der Bank einen Kredit haben will — oder, siehe Los Angeles, von der Polizei angehalten wird. Auch zwischen nichtuniformierten Weißen und Schwarzen ist der direkte Umgang in den USA manchmal konfliktreich. Aber selbst im tiefsten, weißesten Mississippi können Schwarze zu jeder Tages- und Nachtzeit mit dem Zug oder Bus fahren und sich auf ihre Lektüre oder die Landschaft konzentrieren. Und wenn einer mit kurzgeschorenen Haaren und Baseballschläger zusteigt, darf man getrost annehmen, daß er zum Training fährt. Das ist einer der großen Unterschiede zwischen Mississippi und Rostock im Jahre 1992. Andrea Böhm
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