Nazispiele und die „nationale Erhebung“: Fanatiker unter sich
Ideologisierungen zum Fanatismus haben unterschiedlich lange Vorläufe, im Ergebnis sind sie ähnlich. Manchmal finden sie beim Spieleabend statt.
Die Situation war bizarr: In einem Kriegsgefangenenlager mitten in der amerikanischen Provinz grüßten deutsche Gefangene ihre Bewacher mit „Sieg Heil!“ und feierten Hitlers Geburtstag. Mithäftlinge, die es wagten, sich kritisch über den Nationalsozialismus zu äußern, wurden zusammengeschlagen. Einige von ihnen erlitten kurz darauf „Unfälle“ oder begingen überraschend „Selbstmord“.
In dem Fernsehfilm „Anwalt des Feindes“ werden diese Vorfälle in fiktiver Form aufgegriffen. Walter Matthau spielt darin einen amerikanischen Anwalt, der mitten im Krieg einen deutschen Kriegsgefangenen verteidigen muss. Er hält den Mann anfangs für schuldig, deckt dann aber die Machenschaften einer NS-Clique auf. Der Film basiert zu großen Teilen auf authentischen Berichten aus den National Archives in Washington.
Wenn man sie liest, wird klar, wie schwer es den Bewachern fiel, die Fanatiker unter Kontrolle zu bekommen. Sie hörten ihre Zellen ab, sie lasen ihre Post und sie versuchten parallel dazu immer wieder, ihnen mit Bildungsvorträgen, Büchern und Zeitungen demokratische Ideen näherzubringen. Trotzdem planten im Frühling 1945 Häftlinge eine letzte Aktion.
Laut dem Bericht eines Gefangenenpriesters sollten „alle Verräter“ und das amerikanische Wachpersonal umgebracht werden: „Der Hara-Kiri-Club wird seine Arbeit beginnen, sobald der Krieg als absolut verloren gilt … zuerst sollen alle Feiglinge im Camp umgebracht werden, dann der Kommandant … Jeder wird morden, bis er selbst umgebracht wird.“
Ideologisierung begann vor der Einschulung
Diese Fanatiker waren, genau wie Rushdies Attentäter Hadi Matar, relativ jung. Während Matar sich seine Ideologie bei einer Libanonreise und aus dem Internet zusammenklaubte, hatten seine fanatischen Vorgänger jedoch eine längere Vorlaufzeit. Ihre Ideologisierung begann schon lange vor der Einschulung, beim Spieleabend mit der Familie.
In einem gerade erschienenen Aufsatz zeigt der Wiener Historiker Murray Hall, wie populär diese Spiele in Deutschland und Österreich waren. Schon im Dezember 1932 pries der Völkische Beobachter: „Das schönste Weihnachtsgeschenk für jedes deutsche Haus ist das erstklassige historische Gesellschaftsspiel ‚Der Siegeslauf des Hakenkreuzes. Die Bewegung von der Gründung bis zum Ziel in sechsfarbiger Darstellung‘.“
Nachdem dieses Ziel einen Monat später tatsächlich erreicht war, boomte der NS-Spielemarkt. Reißenden Absatz erfuhr das in Chemnitz entwickelte Kampfspiel „Sakakampf“ mit SA-Spielfiguren aus Zinn (SA-Figuren gingen immer, es gab sie auch als Kerzenhalter und aus Schokolade).
Zufriedene Kunden fand auch das Brettspiel „Juden raus!“. Es erschien 1938 und richtete sich an die ganze Familie. Ziel des Spiels war es, möglichst viele Juden nach Palästina zu verjagen: „Gelingt es Dir, sechs Juden rauszujagen, bist Du Sieger ohne Fragen!“
Kein Schinken mit Hakenkreuz
Aber nicht alle kommerziellen Hits wurden von den Nazis unterstützt. Murray Hall zeigt, dass die Parteiführung von Anfang an besorgt war, Symbole der „nationalen Erhebung“ könnten herabgewürdigt werden.
Mit dem „Gesetz zum Schutze der nationalen Symbole“ vom Mai 1933 wollte man seine Marke rein halten: „Torten mit Hakenkreuzen, Schinken mit Hakenkreuzen, Führerbilder in den Geschäftsauslagen in unwürdiger Umrahmung, z. B. zwischen Damenwäsche, zwischen Schnapsflaschen, zwischen Wurst und Schinken“ wurden nicht toleriert. Auch dürfte das „Deutschland- und Horst-Wessel-Lied nur in nüchternem Zustand gesungen werden.“
Eine Vorschrift, die heute bei vielen Neonazis leider in Vergessenheit geraten ist. In amerikanischen Gefangenlagern wurde sie (wohl auch aus Mangel an Alkohol) respektiert. Berichten zufolge verlief die letzte Geburtstagsfeier für den Führer stilvoll.
Nur der Hara-Kiri-Club erreichte im Mai 1945 sein Ziel nicht mehr. Man hatte die Anführer noch rechtzeitig „verlegt“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich