Nazi-Planspiel beim Kirchentag: Nichts als harmlose Runen?
Ein fiktives Dorffest wird zur völkischen Sonnwendfeier. In einem Planspiel fragen sich Jugendliche, ob altes Brauchtum in Ordnung ist – oder schon rechts?
HAMBURG taz | Keiner muss einen Nazi spielen. „Wir können niemandem zumuten, eine menschenverachtende Position zu vertreten“, sagt Miriam Höppner von „planpolitik“. Die Agentur aus Neukölln entwickelt Planspiele. Dabei wird eine konstruierte Situation vorgegeben. Jeder Teilnehmer bekommt eine Rolle, gemäß derer sie später in der Diskussion ihre Position vertreten müssen. Am Ende steht – hoffentlich – ein Konsens.
Auf dem Kirchentag soll eine Sitzung des Gemeindekirchenrats gespielt werden, der unter dem Thema „Ist das schon rechts?“ tagt. Es geht um eine fiktive Kleinstadt in Deutschland, in der ein Dorffest in eine völkische Sonnwendfeier ausartet. Flugblätter mit germanischen Symbolen machten die Runde, völkische Lieder wurden gesungen.
Der Gemeindekirchenrat soll entscheiden, wie mit der Situation umgegangen werden soll – und viele Jugendliche wollen dabei mitspielen. Eigentlich rechnete „planspiel“ mit 500 Teilnehmern, aufgetaucht sind 1.200 Interessierte.
Der Pulk der Kapuzenpulli-Träger verteilt sich auf vier Tische und dort auf jeweils fünf Gruppen – Sternchen, Dreieck, Rechteck, Kreis und Raute. Jeder liest sein Rollenprofil durch. Vor allem drei Gruppen werden sich am Tisch hinten am Fenster später fetzen: Die Sternchen-Gruppe will rigide gegen Rechtsextremismus vorgehen. Die Teilnehmer von der Rechteck-Gruppe finden nichts Schlimmes an altem Brauchtum. Die Kreis-Gruppe will auf die Sünder zugehen und sie auf den richtigen Weg bringen.
Hitzige Diskussion
Alle werden versuchen, den Gemeindekirchenrat von ihren Ansichten zu überzeugen. Die Teilnehmer legen auf Listen fest, wer wann sprechen darf – und jeder will unbedingt gleich loslegen. Die Diskussion beginnt mit der Pfarrerin. Die Rolle übernimmt eine junge Frau. Die gibt sich demütig und entschuldigt sich erst einmal für ihre Pressemitteilung, die sie nach dem Fest abgegeben hat. Alle nicken und freuen sich, dass „mal geredet wird.“
Die Sternchen-Gruppe heizt die Diskussion an. Es wird wild gestikuliert, die Gemeinde soll die Nazis anzeigen. Die Gutmenschen-Fraktion von der Kreis-Gruppe hingegen schöpft gleich mitten aus dem christlichen Vergebungsspektrum. „Jesus hat allen Sündern vergeben“, sagt ein Junge. Die passende Bibelstelle rezitiert er auswendig.
Gruppe Rechteck mit den Brauchtum-Verfechtern versteht den ganzen Wirbel nicht: Wo soll denn der Zusammenhang zwischen Germanen und Rechtsradikalen sein? Runen seien doch etwas Tolles. Die Rechteckigen fordern einen Ausschuss, in denen die fragwürdigen Liedtexte besprochen werden.
Und überhaupt, in der Kirche würden doch auch alle unreflektiert mitsingen, vor allem die Kinder, die würden von den Eltern gezwungen. Das sei doch viel extremer, schließlich „ist das ja jede Woche so.“ Die anderen Gruppen melden umgehend Protest an.
Gruppe Pro-Brauchtum
Seit fast einer Stunde diskutieren die Teenies. Zeit für eine Pause. Ein Junge mit Rastalocken von der Gruppe Pro-Brauchtum erzählt, dass er es auch im echten Leben gewohnt sei, sich verteidigen zu müssen. Der 19-Jährige ist Fan der Südtiroler Gruppe „Frei.Wild“, die wegen ihrer nationalistischen Texte von der Nominiertenliste des Musikpreises Echo gestrichen wurde. „Tiroler haben eben einen anderen Bezug zu ihrer Nationalität“, sagt er. Seinen Namen mag er nicht sagen.
Als nach dem Planspiel alle Teilnehmer besprechen, welche Standpunkte sie bereits für rechtsextrem halten, rechtfertigt sich der Frei.Wild-Fan wieder. Er hält seine Rollenbeschreibung hoch und stellt klar, dass das gar nicht alles seine Meinung sei. Zustimmendes Nicken der anderen Teilnehmer. Seine Gruppen-Kollegin Maya Schmidt aus Dortmund betont, dass ihre Mutter Jüdin ist. „Nicht, dass ihr jetzt denkt, dass ich was für Nazis übrig hätte.“
Mit der Planspiel-Rolle kann sie sich aber schon identifizieren. In die langen rotbraunen Rastazöpfe der 19-Jährigen sind Münzen und Perlen eingenäht. „Mir geht das auf die Nerven, wenn Nazis sich bestimmter Symbole bedienen und die dadurch einen braunen Anstrich bekommen“, sagt sie und zeigt ein Amulett, das um ihren Hals hängt – einen keltischen Lebensbaum. Das mache sie schließlich auch nicht gleich zum Nazi.
Eine Nazi-Rolle wollten die Macher von „planpolitik“ nicht einbauen. „Dann wäre ja alles eindeutig“, sagt Höppner. Es geht um subtilen Faschismus. Kleine Ausgrenzungen können nach Höppners Ansicht auch bereits mit achtlos dahin Gesagtem beginnen: „Was ist denn dabei, die Lieder sind doch schön“.
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