Die Kunst des Alleinseins

Warum fühlt man sich als Einzelgast am Nachmittag in Cafés wohl, am Abend in Restaurants dagegen weniger? Übers Alleinsein gibt es neue Erkenntnisse. Eine Navigationshilfe für sensible SolistInnen, jenseits der Diktatur von Gruppen und Pärchen

Dieses „Portrait einer Frau, die einen Brief schreibt in einem Raum mit großen Fenstern in Montecatini Terme“ entstand wohl um 1900 Fotos: Fratelli Alinari/IDEA S.p.A./Corbis/getty

Von Barbara Dribbusch

Es ist der Klassiker für Alleingängerinnen, die sich am Abend in einem Restaurant an einen Tisch setzen. Auch Renate Christians kennt das. „Der Kellner kommt her und fragt: Sind Sie allein? Ich antworte: Sieht so aus.“ Die 65-Jährige geht öfter alleine essen. „Zum Italiener, zum Chinesen, ich genieße es, auch mal neue Restaurants auszuprobieren“, sagt sie, „ich muss nicht als Stammgast vom Wirt umarmt werden. Ich sitze gerne alleine und gucke mir die Leute an.“

Christians, ehemalige Krankenhausberaterin und gelernte Krankenschwester, gehört zu einer wachsenden Gruppe. Die Zahl der Singlehaushalte nimmt zu. Aber Männer und Frauen, die sich in der Gastronomie, in Hotels, in Kinos und Theatern alleine bewegen, sind in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch nicht die Norm – ebenso wenig wie Frauen, die alleine verreisen.

Über „die Kunst, mit sich allein zu sein“, hat der britische Buddhist Stephen Batchelor ein neues Buch geschrieben (Edition Steinrich) und der Originaltitel trägt schon die Ambivalenz des Themas in sich: „The Art of Solitude“. Das englische Wort „Solitude“ hat nicht den negativen Beigeschmack wie die deutsche „Einsamkeit“. „Solitude“ kann Einsamkeit, Isolation, aber auch die innere Einkehr, eine willkommene Abgeschiedenheit bedeuten. „Mit sich allein sein ist ein fließendes Konzept, das von den Tiefen eines Verlassenheitsgefühls bis zur mystischen Entrückung eines Heiligen reicht“, schreibt Batchelor, der in seinem Buch Meditations- und Drogenerfahrungen mit Reiseberichten und Porträts verquickt.

Das Alleinsein kann als Zeichen von Schwäche, von Ausgeschlossensein, aber auch als Zeichen von Stärke, von Autonomie interpretiert werden. „Entscheidend ist die Norm, die man selbst verinnerlicht hat“, sagt der Psychiater und Buchautor Manfred Spitzer im Gespräch mit der taz, „wenn ich alleine entspannt bin und offen in die Welt gehe, schauen mich auch die Leute anders an“.

Ob man sich alleine entspannt fühlt, hängt auch von den Orten ab. Es ist schöner, sich als AlleingängerIn dorthin zu bewegen, wo nicht die Pärchendiktatur herrscht mit ihrem heteronormativen Zugehörigkeitskonzept.

Das Kaffeehaus mit Zeitungen hieß schon in früheren Zeiten Einzelgäste willkommen und ist eine Umgebung, in der man Leute beobachten und einer Beschäftigung nachgehen konnte wie dem Zeitunglesen. Die zerlesenen Zeitungen mit den hölzernen Zeitungshaltern sieht man kaum noch, stattdessen fragt man im Café nach dem WLAN-Passwort und hält sich an das eigene Ipad als wichtigstes Utensil. Ipad und Handy sorgen immer für ein Gegenüber.

Sich in einem gut besuchten Edelrestaurant an einem Samstagabend alleine einen Tisch vorzubestellen ist hingegen etwas für Hartgesottene. Am Wochenende herrscht dort Pärchen- und Gruppendiktatur. Nur AlleingängerInnen, die ohnehin sehr stark mit ihrem Innenleben beschäftigt sind oder eben die Seezunge faite maison besonders schätzen, fühlen sich dort wohl.

Entspannter am Samstagabend ist der Kiez-Sudanese mit Selbstbedienung. Und danach das kleine Kino, das kurz vor der Schließung steht und in dessen Sitzreihen sich auch andere Einzelgäste fläzen.

„Wenn man nicht auffallen will, geht man dahin, wo man nicht auffällt“, sagt Spitzer. Sensible SolistInnen entspannen sich, sobald weitere Einzelgäste auftauchen, ob nun im Lokal oder im Kino oder in der Musikkneipe.

„Einsamkeit ist hierzulande schambesetzt“, sagt der Soziologe Janosch Schobin. Die Zuschreibung des Verlierertums an AlleingängerInnen lässt sich im öffentlichen Diskurs beobachten. Auf ältere alleinstehende Frauen etwa richten sich die immer gleichen Fantasien der Umgebung: Ist sie geschieden? Kriegt sie keinen Mann mehr? Dabei könnte man SolistInnen auch als AbenteurerInnen sehen. Und AlleingängerInnen können ja durchaus irgendwo eine Partnerin haben, nur unternehmen sie eben auch gerne mal was ohne Begleitung.

„Ich mache viel allein, aber ich bin nicht einsam“, sagt Renate Christians. Die dreifache Großmutter ist seit zwei Jahrzehnten von ihrem Mann getrennt und politisch in der Gruppe „Omas gegen Rechts“ aktiv. Das Alleineleben musste sie damals, nach der Trennung, „erst lernen“. Der erste Urlaub alleine in einem Hotel in Fuerteventura „war schrecklich“, erinnert sich Christians, „in dem Hotel gab es nur Paare und Familien“. Nach drei Tagen im Hotel kamen dann zwei junge Männer aus dem Ruhrgebiet zu ihr und fragten, ob sie sich dazusetzen könnten. „Ich sagte: Ja, gerne, ich habe seit drei Tagen mit niemandem mehr gesprochen“, erinnert sich Christians.

Inzwischen habe sich viel verändert und die Zeiten, wo Singles das dunkelste, kleinste Zimmer im Hotel bekamen, seien zum Glück vorbei, sagt Chris­tians. Reiseveranstaltern ist aufgefallen, dass gerade alleinstehende Frauen durchaus wohlhabend sind und gerne in die Welt ziehen, gerne mit Aussicht auf ein bisschen Austausch unter Gleichgesinnten. Das Biohotel Gutshaus Stellshagen in Damshagen an der Ostsee zum Beispiel hat im Restaurant einen „Begegnungstisch“ eingerichtet, an den sich Alleinreisende setzen und ein Gespräch anfangen können, wenn sie wollen. Auch Reisetrends wie das Pilgern auf dem Jakobsweg konnten nur entstehen, weil es so viele Alleinreisende gibt.

Sie freue sich jetzt auf den Nordseeurlaub im Einzelzimmer, sagt Christians, „meine Malsachen nehme ich mit“. Sie schreibe auch immer mal wieder ihre Gedanken auf.

Buchautor Stephen Batchelor zitiert einen modernen Einsiedler auf einer Insel in Patagonien, der Tagebuch schreibt und über den Weg des Schreibens „nicht mehr länger wirklich allein ist“. Beschäftigung auf Reisen verleiht Richtung und Sinn, ob man nun Bücher liest, malt, schreibt oder mit Fernglas und einer Vogelstimmen-App auf dem Handy durch die Gegend läuft und Birdwatching betreibt. Handlungen schaffen Verbindung zur Welt. Deswegen ist es auch nett, Reisebilder zu liken, die jemand auf Facebook postet. Alleinreisende nehmen mit dem Facebook-Post Kontakt auf zum Rest der Welt – und das hat mit Angeberei nichts zu tun.

Auf ältere alleinstehende Frauen etwa richten sich die immer gleichen Fantasien der Umgebung: Ist sie geschieden?

Einsamkeit war in der deutschen Tradition lange gar nicht negativ besetzt, sagt Philosoph Schobin. Die Veredelung der Einsamkeit, des Eremitentums, finde sich unter anderem in der christlichen Tradition. Dort stand Einsamkeit für innere Einkehr und Gottesnähe. Erst seit dem 19. Jahrhundert sei die Einsamkeit stärker mit Leiden konnotiert, so Schobin.

Das hängt vielleicht auch mit dem gesellschaftlichen Wandel zusammen: In einer westlichen Gesellschaft der Langlebigen machen die meisten Leute in ihrem Leben Verlusterfahrungen, wenn nahe Menschen sterben. In einer Gesellschaft, in der angeblich jeder vielfältige Optionen für Kontakte und Bindungen hat, wächst möglicherweise auch die Angst vor dem Ausgeschlossensein.

„Manches will man ja teilen“, sagt Christians. Ins Theater zum Beispiel gehe sie nicht gerne alleine, in der Pause fühle sie sich als Einzelne dort nicht wohl, „da fehlt mir der Austausch“. Sie ist sowohl viel alleine als auch mit FreundInnen und in Gruppen unterwegs. Sehr hilfreich findet sie als Hauptstadtbewohnerin dabei die App BerlinerSingles.de.

Die Begegnungs-App ist ein gutes Beispiel für den gesellschaftlichen Wandel: Sie kommt erst mal wie eine heteronormative Dating-App daher, die eigentliche Action spielt sich aber unter dem Punkt „Events“ ab, wo viele Mitglieder, darunter viele Ältere, sich in kleinen Gruppen zum Urban Farming, zum Motorrad-Kurventraining oder zu Friedhofsführungen verabreden. Die Partnersuche spielt dabei eine eher untergeordnete Rolle.

Beziehungsmärkte könnten „auch eine Art von Einsamkeit produzieren“, sagt Janosch Schobin, nämlich dann, „wenn man sich davon exkludiert“ fühle aufgrund bestimmter Merkmale wie Alter, Aussehen, Krankheit, Armut. Das Klischee, dass angeblich besonders Frauen im Alter vereinsamen würden, trifft dabei nicht zu. Schobin hat Statistiken der Ordnungsämter untersucht, nach denen der Anteil der Männer, die nach ihrem Tod ohne Beteiligung von Angehörigen von Staats wegen bestattet werden, sehr viel höher ist als der Anteil der Frauen, die solcherart beerdigt werden. Verarmte, kranke Männer können im Alter sehr isoliert sein.

Letztlich kommt es vielleicht darauf an, das Alleinsein als eine Form der Beziehung zur Welt zu betrachten. Eine Lebenslage, die sowohl die Einkehr nach innen als auch die weite Öffnung nach außen gestattet. „Man kann sich immer interessieren und andere Menschen in das eigene Leben hineinlassen“, sagt Renate Christians, „das geht auch noch im hohen Alter“.