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Naturschutzgebiete in BrandenburgMaders Wildnis

Hans-Joachim Mader galt als Verhinderer, weil er die Natur vor Golfplätzen und Investoren schützte. Heute macht sein Ansatz bundesweit Schule.

Die Renaturierung der Natur: In der Lieberoser Heide blüht im Herbst das Heidekraut. Foto: imago/Rainer Weisflog

Der rote Kopf der Flechte könnte eine Blüte sein. Ist er aber nicht, was auch Hans-Joachim Mader weiß. Aber im Laufe der Jahrzehnte hat er sich angewöhnt, die Phänomene der Natur zu vereinfachen, um sie zu erklären, und deswegen nennt er den roten Punkt nun Blüte. „Ein Wunder“, sagt Mader, beugt sich in gebügelter Hose mit fast durchgedrückten Knien hinunter zu den streichholzgroßen Gewächsen auf dem Boden, lüftet mit dem kleinen Finger der flachen Hand den roten Fruchtkörper der Flechte und erklärt den Besuchern auf dem alten Truppenübungsgelände bei Lieberose, welche Geschichte die Flechte über die Wildnis hier in Deutschland erzählt.

Die Wildnis wächst, nur 90 Kilometer südöstlich von Berlin. Die Natur macht auf 3.150 Hektar, was sie will. Besenheide, Birke und Kiefer wachsen, wo es geht, im Moor leuchtet der Sonnentau, zwischen den Waldseen schlüpft der Fischotter durchs Gras, die Mopsfledermaus jagt Schmetterlinge am Waldrand, der Wiedehopf ruft im Sommer sein obertonartiges „Hup-hup-hup“ über die Steppe, und irgendwo in der Weite des alten Militärgeländes haben sich auch Wölfe angesiedelt.

Menschen leben hier nicht, nach einem Waldbrand 1942 nutzte erst die Waffen-SS das Gelände als Truppenübungsplatz, nach dem Krieg ließen die Generäle der Roten Armee die letzten Siedlungen räumen und übten im Sand mit schwerem Gerät. Als die Russen abzogen, wurde das von Panzern und Granaten zerfurchte Land frei.

Nicht nur in Lieberose, in ganz Brandenburg warteten Mitte der 1990er Jahre insgesamt 120.000 Hektar ehemalige Militärgebiete auf neue Zeiten. Hans-Joachim Mader witterte eine Chance für den Wildwuchs. Er war damals Brandenburgs oberster staatlicher Naturschützer im Umweltministerium. Im August 1990 war er freiwillig aus dem Bundesumweltministerium in Bonn nach Potsdam gegangen, um die westdeutsche Bürokratie im Osten aufzubauen. Schnell wurde er Leiter der Abteilung für Raumordnung im brandenburgischen Umweltministerium, dann übernahm er die Naturschutzabteilung, verteidigte die Natur gegen Golfplätze, Gewerbegebiete und all die Leute, die im wilden Osten eine schnelle Mark machen wollten.

Die Entstehung der Wildnis

„Ich wurde als Verhinderer wahrgenommen und entsprechend beschimpft“, sagt Mader äußerlich ungerührt. „Die menschlichen Verletzungen der Natur habe ich immer als furchtbar empfunden.“ An die Entstehung von Wildnis hat er Ende der 1990iger Jahre noch nicht gedacht, ihm ging es darum, die unzerschnittenen Gebiete der Truppenübungsplätze mitsamt der Vielfalt an Pflanzen und Tieren aus dem Verkehr zu ziehen. In Westdeutschland gab es solche Schätze nicht mehr, und Hans-Joachim Mader gehört mit Michael Succow, dem Träger des alternativen Nobelpreises, und einem Dutzend Weiterer zu den wenigen, die nach der Wiedervereinigung die historische Chance für die Natur in Deutschland sahen.

Gemeinsam mit der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt, den Naturschutzorganisationen Nabu und WWF, dem Landschaftsförderverein Nuthe-Nieplitz gründet Mader für das Land Brandenburg im Jahr 2000 die Stiftung Naturlandschaften Brandenburg. Sie nennen sich bald „Wildnisstiftung“, denn sie wollen auf den insgesamt 12.800 Hektar der Stiftung in verschiedenen Gebieten Brandenburgs der Natur ihren freien Lauf lassen. Mader und seine Mitstreiter wollen dort ausprobieren, was in den Naturschutzgesetzen nicht vorgesehen ist: wildes Land ohne menschlichen Einfluss.

Die menschlichen Verletzungen der Natur empfand ich als furchtbar

„Der Begriff der Wildnis ist kontinuierlich gewachsen“, sagt Mader über die vergangenen 15 Jahre, was nichts anderes bedeutet, als dass er immer weiter von der Natur gelernt hat. Als er die Truppenübungsplätze ruhigstellte und die Verwilderung begann, hatte mit der Wildnis in Deutschland niemand Erfahrung. Die romantische Vorstellung von Wildnis als der ursprünglichen Natur, in die kein Mensch je einen Fuß gesetzt hätte, passte nicht.

Sie stimmte mitten in Europa noch nie, denn überall ist schon mal jemand gewesen, kein Wald in Deutschland ist älter als ein paar hundert Jahre und damit immer ein Produkt der Kultur. Dabei war Wildnis schon immer ein Konzept der Zivilisierten, die sich mit dem Begriff Wildnis von der Natur abgrenzen wollten. Und so ist heutzutage die Wildnis in Deutschland wieder eine Idee, eine kulturelle Leistung. Diesmal geht es darum, zur Seite zu treten und dem Leben der Natur einen Platz einzuräumen.

Modell für andere Gebiete in Deutschland

Was als Idee von Wildnis im Brandenburger Sand begann, gilt mittlerweile als Modell für andere Gebiete in Deutschland. Denn die neue Wildnis stärkt die Artenvielfalt und ermöglicht es Tieren und Pflanzen erst, einen Lebensraum natürlich zu entwickeln. Wenn Tiere und Pflanzen selbst entscheiden können, wo sie leben, haben sie größere Chancen zu überleben. Der Klimawandel bringt zudem die gewachsene Ordnung durcheinander. Den einen wird es zu heiß, den anderen zu trocken, Vögel und Säugetiere ziehen um, Bäume und Kräuter sterben ab, andere Tiere und Pflanzen wandern ein in die entstehenden Lücken.

Die Bundesregierung hat sich schon 2007 entschlossen, die Wildnis in Deutschland zu fördern. 2 Prozent der Landesfläche will der Staat bis 2020 der Natur überlassen. Bislang sind es knapp 1 Prozent der Fläche.

„Ich hatte ein Leben wie ein junger Gott im Wald“, sagt Mader über seine Kindheit im Taunus, wo er 1944 geboren wurde. In den mit Wasser vollgelaufenen Kratern der alliierten Fliegerbomben beobachtete er Kaulquappen bei der Froschwerdung, folgte Molchen durchs Moos und verbrachte die Nachmittage in den Bäumen. „Ich bin ein Baummensch von vornherein gewesen“, sagt Mader, der nach einem Biologiestudium 1978 mit Mitte dreißig in die Elfenbeinküste gerufen wurde, um den Nationalpark Assagny zu entwickeln. Monatelang hat er mit seinen Begleitern in der Natur kampiert, nachts vom Jaulen der Hyänen begleitet.

„Mir stellten sich die Nackenhaare auf“

„Angst hatte ich keine, aber als plötzlich Totenstille herrschte, stellten sich mir die Nackenhaare auf“, sagt Mader und es scheint, als spüre er noch immer, wie in dieser Nacht in der Wildnis ein Leopard um das Camp strich, 20 Minuten, zwei Stunden – Mader hatte nicht zur Uhr geschaut, sondern ein Feuer entfacht.

„Das Ziel auf den Flächen der Wildnisstiftung ist, der Natur so viele Freiheitsgrade wie möglich zu eröffnen“, sagt er und lächelt unter einem akkuraten, fast militärisch wirkenden Schnurrbart. Was sich so leicht anhört, ist für einen Naturschützer der alten Schule eine schwere Übung. Naturschützer verteidigen seit Jahrzehnten die Natur mit dem Gesetzbuch, schützen hier die Orchideenwiese, dort die Gelbbauchunke, die Feldlerche, jede Art für sich, und dabei verlieren eben einige den Lebensraum aus dem Blick.

Wenn sie es für nötig halten, vergrätzen sie die Tiere und Pflanzen, die den Lebensraum der geschützten Arten im Naturschutzgebiet streitig machen. Wildnis bedeutet jedoch, dass Pflanzen und Tiere ihrem eigenen Willen folgen, und dabei frisst eine geschützte Art auch mal eine andere Art der Roten Liste. „Sich selbst weit zurücknehmen – das ist sehr schwierig“, sagt Mader über den Konflikt eines Naturschützers, der für die Wildnis dann am besten wirkt, wenn er nichts macht.

Er selbst hat in den 1980er Jahren die europäische Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie entwickelt, die eine starke Waffe der Naturschützer in ganz Europa wurde. Aber sie wirkt statisch, schützt den Zustand eines Gebietes und nicht die Entwicklung. „Jedes Biotop verändert sich – keiner hat damals darüber nachgedacht. Ich hätte es wissen müssen“, sagt Mader.

Der künftige Urwald

Das Wilde auf den alten Panzerbahnen des früheren Militärgeländes Lieberose sieht noch unspektakulär aus. Graugrün, braun, schwarz vermengen sich Pilze und Algen zu Flechten, überziehen den grauen Sand mit einem Geflecht von trockenen Ästchen. Dazwischen recken die Flechten die roten Köpfe empor und erheben die karge Vegetation zwei, drei Zentimeter über den Boden.

„Die Wüste“ nennt Mader den Teil des alten Truppenübungsplatzes, denn nur Sand haben die Panzer dort hinterlassen. Langsam bereiten jedoch die Flechten den Boden, ein Wunder, wie Mader sagt. Die Flechten werden irgendwann eine millimeterdicke Humusschicht bilden, in der die Samen von Birken, Kiefern, Eichen, Buchen sprießen.

„Ob Eichen oder Buchen im künftigen Urwald dominieren, ist noch nicht klar“, sagt Mader, der an Buchen glaubt, denn Buchen seien härter im Nehmen. „Nicht Buchen – Eichen!“, beharrt Michael Succow, wortgewaltiger Kämpfer für die Natur und eine Legende der ostdeutschen Naturschutzbewegung. Er stapft mit Mader durch die Wüste und kann minutenlang referieren, warum nur Eichen als künftiger Wald in Frage kommen. Das Geflecht unter ihren Füßen bricht, kleine Sandschollen stellen sich auf, als Mader und Succow darüber laufen. Vielleicht wirft ihr Gang durchs Gelände den Boden um Jahrzehnte zurück, vielleicht befördern sie dafür etwas anderes.

„Wildnis heißt: Wir lassen uns überraschen“, sagt Mader.

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