Natural Born Sugar Eaters

Schwein und Zeit: Sebastian Bieniek badet in Hackfleisch  ■   Von Jörg Sundermeier

Zeit hat viele Bilder. Das zerfließende Ziffernblatt einer Uhr, ein ausschlagendes Pendel, ein altes Gesicht mit jugendlich lachenden Augen oder auch einfach nur ein Blatt im Herbst, das fällt und fällt.

Diese Bilder stehen symbolisch für die Zeit. Der Künstler Sebastian Bieniek hingegen versucht die Zeit und ihren Verlauf konkret sichtbar und spürbar zu machen. So hebt er zum Beispiel von einem geöffneten Eimer Wandfarbe die jeweils oberste eingetrocknete Schicht ab, legt sie auf ein Glas, wartet und lässt die nächste Schicht trocknen. Fünf Bilder entstehen so, das Kunstwerk schafft sich selbst.

Oder Sebastian Bieniek malt Kreise. Die Kreise entstehen aus nebeneinanderher laufenden Linien, die Ausrichtung der Linien wandert wie ein Uhrzeiger Tag für Tag weiter. Seit knapp einem Jahr zeichnet er diese Kreise, er hat über dreihundert angefertigt, sie drehen und drehen sich immer weiter. Für sich allein bedeuten die Zeichnungen nichts, nebeneinander ausgestellt jedoch lassen sie einen Verlauf sichtbar werden, ohne ihn zu bewerten. Da dreht sich eben was über Tage hinweg, und um diese Tage geht es: Sebastian Bieniek scheint von denThemen Zeit und Vergänglichkeit geradezu manisch besessen zu sein.

Bienieks aktuelle Ausstellung im Tacheles heißt „Natural Born Sugar Eaters“. Er arbeitet viel mit Verdichtungen: Eine Reihe Zuckerstücke klebt an der Wand, hunderte Zuckerstücke bilden ein Sofa. Und dann – sieht man das Fleisch. Es steht bis zu knapp einen Meter hoch aufgeschichtet in Plexissäulen. Manche Säulen sind zu einem Stuhl verklebt worden, und die Fleischfüllung wirkt organischer und unmittelbarer als Holz. Der Stuhl wird zum Sarg. An der Wand hängt ein Foto, das das Gleiche sagt: Kiloweise Hackfleisch liegt auf einem Grabstein. Der Titel dieses Bildes lautet: „You are not alone“.

Fleisch ist ein Ding, das verpackt wird. Der Metzger wickelt das Fleisch in Papier, und auf seinen Lieferwagen sieht man lustige Schweine. Keiner schätzt den ungeschönten Anblick von Fleisch. Fleisch verweist allzu deutlich auf sein Ex-Leben und den Tod, und wenn man es auch sonst gerne isst: Im Rahmen dieser Ausstellung sieht es eklig und abstoßend aus. Die Bilder, die „Natural Born Sugar Eaters“ zeigen, vergisst man also nicht so leicht. Insbesondere, weil der Sebastian Bieniek sein Werk gern mit seinem Körper unterschreibt. Am Wochenende (und vielleicht auch noch jetzt, wenn dieser Text erscheint) war der Künstler in einem Pool voller Hackfleisch vergraben. Nur eine Körperhälfte ragte heraus.

Sebastian Bieniek blieb jeden Tag bis zur körperlichen Erschöpfung in diesem Pool. Fleisch kommt so zu Fleisch, und die künstlichen Hierarchien zwischen Esser und Essen lösen sich auf. Leben wird so auf eine beindruckende Weise relativ.

Bis zum 7. November, Tacheles, Oranienburger Str. 54 – 56, tägl. 14 – 23 Uhr