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Natürlich ungepellt

Vincent van Gogh – Die Kartoffelesser: Eine Ausstellung gegen liebgewonnene Mißverständnisse  ■ Von Stefan Koldehoff

Das 81,5x114,5 Zentimeter große Bild zählt zu den am besten dokumentierten Werken der Kunstgeschichte – und zu den nachhaltig mißverstandenen. Bekannt ist, daß Vincent van Gogh seine „Kartoffelesser“ zwischen Mitte April und Anfang Mai 1885 in dem kleinen Atelier malte, das er in Nuenen im Haus des Küsters Schafrat hatte. Bekannt ist, daß er wahrscheinlich Mitglieder der Familien De Groot und van Rooij als Modelle gewann, daß links über ihren Köpfen neben der Pendeluhr eine Darstellung der Kreuzigungsszene mit Johannes und Maria hängt und die Bäuerin am rechten Bildrand aus einer kupfernen Kanne einen Kaffeersatz aus getrocknetem und zerstoßenem Chicorée ausschenkt. Welche Absicht aber van Gogh mit seinen „Kartoffelessern“ verfolgte, blieb lange im Dickicht der Legenden und Mythen um Leben und Werk des Frühvollendeten verborgen. Ausgerechnet die Kunstgeschichte trug zu dieser Mythenbildung nicht unwesentlich bei.

Über Jahrzehnte hin nämlich galt das heute zur Sammlung des Amsterdamer „Rijksmuseums Vincent van Gogh“ gehörende dunkle Interieur mit fünf Figuren in der Van-Gogh-Rezeption vor allem als Dokument des sozialen Engagements. 1921 schrieb Julius Meier-Graefe über Van Gogh und seine Bauern: „Er bekommt selbst so ein Gesicht, gräbt, schaufelt, eggt Linien von Menschen, die immer in der Erde, von der Erde leben, Bauern-Linien, Bauern-Flächen. Sein Stift wird Pflug.“ Viele Kollegen des deutschen Kunsthistorikers übernahmen die sozialkritische Einordnung der „Kartoffelesser“ nur zu bereitwillig. So formulierte etwa Meyer Schapiro, Professor für Kunstgeschichte an der University of Columbia in New York: „Er malte die Bauern nicht um ihres malerischen Aussehens willen, sondern wegen einer inneren Verwandtschaft und Verbundenheit mit dem armen Volk, dessen Leben wie sein eigenes mit Sorge überladen war.“ Und der Psychoanalytiker Humberto Nagera setzte noch eins drauf, indem er suggerierte, erst nach dem Tod seines dominanten Vaters am 26. April 1885 habe sich van Gogh frei genug gefühlt, die Kartoffelesser zu malen. Er übersah dabei geflissentlich, daß die ersten Skizzen für das Bildprojekt schon ein Jahr und acht Monate vorher entstanden waren.

Mit Mythen und Fehlinterpretationen der „Kartoffelesser“ räumt jetzt eine Ausstellung im Amsterdamer Rijksmuseum Vincent van Gogh und vor allem das Katalogbuch auf, dessen Erscheinen in der Reihe „Cahier Vincent“ den Anlaß für die Bilderschau gab. Sjraar van Heugten, Kurator des Van- Gogh-Museums, beschreibt die Intention der monographischen Werkschau, die eine neue Sicht auf das Gemälde eröffnet: „Die Leute wollen in diesem Bild nach wie vor ein sehr mitfühlendes Bild von armen Bauern und in van Gogh dann den sehr mitfühlenden Beobachter dieser Szene sehen. Van Gogh hat versucht, das Bauernleben, wie er es sah, so gut wie möglich festzuhalten – nicht als sozialen Kommentar, sondern so, wie er die Bauern sehen wollte.“

Seinen Anspruch formulierte der Maler selbst in den Briefen an seinen Bruder Theo, der zu dieser Zeit als Kunsthändler in Paris tätig war und von dem Vincent erwartete, daß er ihm bei der Vermarktung seiner Werke helfe. „Ich habe mich nämlich sehr bemüht“, beschreibt er dem Bruder am 30.April 1885, „den Betrachter auf den Gedanken zu bringen, daß diese Leutchen, die bei ihrer Lampe Kartoffeln essen, mit denselben Händen, die in die Schüssel langen, auch selber die Erde umgegraben haben; das Bild spricht also von ihrer Hände Arbeit und davon, daß sie ihr Essen ehrlich verdient haben.“ Hier mischt sich das naturalistische Programm mit einem Ton von völkischem Schollen- Kult. Van Gogh hatte sich, um sein Streben nach Authentischem zu akzentuieren, bemüht, möglichst häßlich aussehende Modelle zu finden. Zwar hatte er das Buch „Physiognomie et phrénologie rendues intelligibles pour tout le monde“ von Lavater und Gall gelesen, in dem die beiden Autoren eine zur damaligen Zeit allgemein akzeptierte systematische Verbindung zwischen körperlichen und geistigen Eigenschaften der Menschen konstruiert hatten. Tatsächlich aber schuf sich, wie seine Briefe belegen, Vincent van Gogh seine eigene Wirklichkeit und konterkarierte gerade damit seine eigenen naturalistischen Bemühungen. „Bauern sind eine Welt für sich, in mancher Hinsicht besser als die zivilisierte Welt“, hatte er romantisierend an Theo geschrieben. Ihm ging es darum, das primitiv-archaische Leben jener Bauern zu konservieren, die von der fortschreitenden Industrialisierung noch völlig unberührt geblieben waren.

Vorbilder waren deshalb nicht die Impressionisten, zu deren Themen etwa die Großstadt Paris und ihre Bahnhöfe zählten, sondern Maler wie Millet oder Mauve, die das harte Leben der Landbevölkerung in ihren Werken ebenfalls naturalistisch abbildeten, in der Regel allerdings ohne dabei zu romantisieren. Die amerikanische Kunstprofessorin Judy Sund hat in einer unlängst erschienen Studie nachgewiesen, wie sehr in dieser Hinsicht auch die Lektüre von Werken der französischen Naturalisten van Goghs Weltbild beeinflußte. (Judy Sund: „True to Temperament“. Cambridge University Press)

Die Amsterdamer Ausstellung weist außerdem anschaulich nach, daß die „Kartoffelesser“ für van Gogh in erster Linie das probate Mittel zum lang verfolgten Zweck gewesen waren: Nach fünf Jahren der künstlerischen Selbstschulung hatte er den festen Willen, ganz bewußt ein Meisterwerk zu schaffen, mit dem der 31jährige auch in den Augen seiner Malerkollegen würde bestehen können. Die Aufgabe, die er sich ausgerechnet mit diesem Motiv gestellt hatte, war aber für eine ungeübte Hand wie die seine kaum zu lösen. Das Vorhaben, fünf Menschen so darzustellen, daß sie im Schein nur einer einzigen Öllampe auch noch halbwegs naturalistisch aussahen, war von Beginn an zum Scheitern verurteilt.

Van Gogh versuchte, das Problem mit Hilfe unzähliger Vorstudien in Kohle und Öl zu bewältigen. Die vor dem Hauptbild entstandene große Ölstudie der „Kartoffelesser“ mochte das Rijksmuseum Kröller-Müller in Otterlo nicht nach Amsterdam ausleihen. Die Verantwortlichen fürchteten in den Sommermonaten bei einem Fehlen des Bildes einen Besucherrückgang. Statt dessen ist durch entsprechende Beispiele ausführlich dokumentiert, wie van Gogh eine ganze Serie von Bauernköpfen schuf und ihre Hände studierte. Er skizzierte die Kanne auf dem Tisch, die Uhr an der Wand und sogar die Gabeln, mit denen die Bauernfamilie nach den Kartoffeln stochert. Der Maler probierte aus, ob er das im Bildvordergrund in Rückenansicht dargestellte Mädchen besser sitzen oder stehen ließ und beschäftigte die alte Frau am rechten Bildrand – als er feststellte, daß sie mit ihrem Arm aus kompositorischen Gründen gar nicht bis an die Kartoffeln herankommen würde – mit Kanne und Tassen. Die von Cornelia Peres im „Cahier Vincent“ ausführlich dokumentierte restauratorische Untersuchung der Leinwand ergab zudem, daß van Gogh das eigentlich schon fertige Bild noch mehrfach nachträglich mit Pinseln verschiedener Stärke überarbeitete, um den „Kartoffelessern“ den letzten Schliff zu geben. „Die Farbe, in der sie nun gemalt sind, ist die einer staubigen Kartoffel“, teilt er schließlich dem Bruder in Paris mit, „ungepellt natürlich.“

Die Amsterdamer Ausstellung räumt auf diese Weise zugleich mit einer zweiten Van-Gogh-Legende auf. Noch immer gilt der Frühvollendete als verkanntes Genie, dem die Motive nur so auf die Leinwand flogen. Vor allem seine regelrechte Gemäldeproduktion der letzten beiden Lebensjahre, in denen er in Arles, Saint Rémy und Auvers-sur-Oise rund 800 Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen schuf, trugen zu diesem falschen Bild vom Schnellmaler erheblich bei. Um die Kartoffelesser aber mußte van Gogh, das belegt die Ausstellung eindrucksvoll, mit sich ringen.

Daß er schließlich scheiterte, hatte van Gogh selbst gewußt. Der Bruder in Paris, dem Vincent eine Lithographie zur Verteilung an Pariser Kunsthändler wie Durand- Ruel zusandte, kam diesem Wunsch nicht nach und hielt, überzeugt von der so viel helleren und realistischeren Kunst der Impressionisten, mit seiner – wenngleich diplomatisch verpackten – Kritik nicht hinterm Berg. Zwar lobte er, man könne „die Holzschuhe der Gemalten aneinanderschlagen hören“. Vor allem Theos Bemerkung, daß die Körper der Bauern schlechter als die Köpfe gelungen seien, mußte van Gogh treffen: Er hatte bewußt kein abbildendes Portrait, sondern eine allgemeingültige und dadurch in seinen Augen wahrhafte Genreszene malen wollen. Noch harscher fiel die Kritik seines Freundes Anthon van Rappard aus. „Warum hast Du alles so oberflächlich beobachtet und behandelt“, fragte der in einem Brief. „Sie sehen so posierend aus. Wie kannst Du es wagen, Namen wie Millet und Breton in diesen Zusammenhang zu stellen? Kunst ist meiner Meinung nach zu hehr, um mit solcher Nonchalance behandelt zu werden.“ Tief getroffen, beendet van Gogh daraufhin die Freundschaft, gestand aber wenig später ein: „Ich weiß auch, daß es seine Mängel hat, doch gerade weil ich sehe, daß die jetzigen Köpfe kräftiger werden, wage ich zu behaupten, daß auch die ,Kartoffelesser‘ ihre Kraft behalten werden.“ Er erklärte van Rappard, er habe sich zu sehr auf die Farbe konzentriert und sandte neue Skizzen nach Paris, um zu beweisen, daß er sehr wohl in der Lage sei, mit dem Problem der Figur umzugehen. Noch 1887 bestätigte sich van Gogh selbst in einem Brief an seine Schwester Willemien: „Von meinen eigenen Arbeiten halte ich das Bild von den Kartoffeln essenden Bauern, das ich in Nuenen gemalt habe, après tout, für das beste, was ich gemacht habe. Nur habe ich seither keine Gelegenheit mehr gehabt, Modelle zu finden, wohl aber Gelegenheit, die Farbenfrage zu studieren. Und wenn ich später wieder Modelle für meine Figuren finde, kann ich hoffentlich beweisen, daß ich noch auf etwas anderes aus bin als auf grüne Landschaften und Blumen.“

Tatsächlich nahm van Gogh noch wenige Wochen vor seinem Tod den Gedanken wieder auf, eine aktuelle Version der „Kartoffelesser“ zu malen. Seine Eltern und Theo bat er deshalb, ihm seine älteren Bauernstudien nach Auvers zu übersenden. Mehrere Zeichnungen aus dem April 1890 zeigen wieder fünf Personen, eine davon in Rückenansicht, die in einer Bauernhütte um einen Tisch sitzen. Van Gogh hatte aus seinen Fehlern in Nuenen gelernt: Diesmal wählte er eine andere Perspektive und größere Distanz zu den Figuren. Ein entsprechendes Gemälde allerdings konnte er nicht mehr ausführen.

„Vincent van Gogh – Die Kartoffelesser“. Rijksmuseum Vincent van Gogh, Paulus Potterstraat7, Amsterdam. Noch bis zum 29.August 1993.

Die Ausstellung entstand zum „Cahier Vincent 5 – The Potatoe Eaters of Vincent van Gogh“. 112 Seiten mit zahlreichen Farb- und Schwarzweißabbildungen, Uitgeverij Waanders, Zwolle

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